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Wolfgang Raible
es entsteht nun ein Innenraum mit einem Ausgang nach außen,
dem sogenannten „Urmund“). Was früher den Außenraum abge-
grenzt hat, wird nun die Grenze zu einem Innenraum, was dem
Innenraum zugewandt war, wird eine Außengrenze zweiten Gra-
des. Physiologisch gesehen differenziert sich dabei das Gewebe in
Ektoderm, Entoderm und, dazwischen, Mesoderm. Aus dem Ekto-
derm werden bei den Wirbeltieren die Haut und das Nervensystem
entstehen, aus dem Mesoderm die Muskeln, die Knochen, das Blut,
aus dem Entoderm die Innereien, also insbesondere der Verdau-
ungstrakt.
Mit den Fragen der Morphogenese aus topologischer Sicht hat
sich, angeregt u.a. durch den englischen Biologen Conrad H. Wad-
dington, in einer ganzen Reihe von Arbeiten der Mathematiker
Rene Thom beschäftigt38. In topologische Begrifflichkeit übersetzt
handelt es sich um die Entstehung von „Singularitäten“, um „At-
traktoren“, die die Entwicklung des sie umgebenden Feldes in
Abhängigkeit von Distanzen oder Gradienten prägen (sie entspre-
chenden „morphogenetischen Feldern“ von Harrison, der „epigene-
tischen Landschaft“ oder der den „Chreoden“ Waddingtons)39. Es
geht um „elementare Katastrophen“ und um sukzessive „Bifurka-
tionen“. Wichtig ist, daß Teile des so entstehenden Ganzen durch
aufeinanderfolgende „Katastrophen“ (im topologischen Sinne) eine
nach und nach lokalere Funktion bekommen, während andere -
etwa diejenigen Teile, die das spätere Nervensystem bilden werden
- stets eine globale Vokation beibehalten und so später die Kon-
trolle über das neu entstandene Ganze ermöglichen. Thom betont
dabei insbesondere das Prinzip des Konflikts und, komplementär,
des Ausgleichs zwischen antagonistischen Kräften (der z.B. in Gra-
dienten oder in Kurven übersetzt werden kann), durch den relativ
stabile Strukturen entstehen40.
38 Waddington 1939,1940; vgl. zu Thom etwa Thom 1968,1970, 1972, 1975,1978.
39 Von „epigenetischer Landschaft“ spricht Waddington erstmals 1940, von
„Chreoden“ in 1957: 32.
40 Diese Konflikt-Hypothese ist in der Morphogenese des Embryos leicht zu bele-
gen, da sie vermutlich allgegenwärtig ist: ihre Triebkräfte sind Aktivierung und
Inhibition. Ein Abschnitt bei Lawrence 1992 (S. 164-170) trägt z.B. den Titel
„Competition - the evidence“. Behandelt wird dabei u.a. die Entstehung von
Borsten an bestimmten Stellen der Drosophila. Sobald eine Zelle in einem
bestimmten kleineren Feld von Zellen das Gen ausgedrückt hat, das zur Anlage
einer Borste führen wird, wird dadurch sogleich eine Borstenbildung auf Basis
der benachbarten Zellen inhibiert. Zerstört man (etwa mit einem Laserstrahl)
die Borstenzelle, so wird eine der umliegenden Zellen zu einer neuen Borsten-
Wolfgang Raible
es entsteht nun ein Innenraum mit einem Ausgang nach außen,
dem sogenannten „Urmund“). Was früher den Außenraum abge-
grenzt hat, wird nun die Grenze zu einem Innenraum, was dem
Innenraum zugewandt war, wird eine Außengrenze zweiten Gra-
des. Physiologisch gesehen differenziert sich dabei das Gewebe in
Ektoderm, Entoderm und, dazwischen, Mesoderm. Aus dem Ekto-
derm werden bei den Wirbeltieren die Haut und das Nervensystem
entstehen, aus dem Mesoderm die Muskeln, die Knochen, das Blut,
aus dem Entoderm die Innereien, also insbesondere der Verdau-
ungstrakt.
Mit den Fragen der Morphogenese aus topologischer Sicht hat
sich, angeregt u.a. durch den englischen Biologen Conrad H. Wad-
dington, in einer ganzen Reihe von Arbeiten der Mathematiker
Rene Thom beschäftigt38. In topologische Begrifflichkeit übersetzt
handelt es sich um die Entstehung von „Singularitäten“, um „At-
traktoren“, die die Entwicklung des sie umgebenden Feldes in
Abhängigkeit von Distanzen oder Gradienten prägen (sie entspre-
chenden „morphogenetischen Feldern“ von Harrison, der „epigene-
tischen Landschaft“ oder der den „Chreoden“ Waddingtons)39. Es
geht um „elementare Katastrophen“ und um sukzessive „Bifurka-
tionen“. Wichtig ist, daß Teile des so entstehenden Ganzen durch
aufeinanderfolgende „Katastrophen“ (im topologischen Sinne) eine
nach und nach lokalere Funktion bekommen, während andere -
etwa diejenigen Teile, die das spätere Nervensystem bilden werden
- stets eine globale Vokation beibehalten und so später die Kon-
trolle über das neu entstandene Ganze ermöglichen. Thom betont
dabei insbesondere das Prinzip des Konflikts und, komplementär,
des Ausgleichs zwischen antagonistischen Kräften (der z.B. in Gra-
dienten oder in Kurven übersetzt werden kann), durch den relativ
stabile Strukturen entstehen40.
38 Waddington 1939,1940; vgl. zu Thom etwa Thom 1968,1970, 1972, 1975,1978.
39 Von „epigenetischer Landschaft“ spricht Waddington erstmals 1940, von
„Chreoden“ in 1957: 32.
40 Diese Konflikt-Hypothese ist in der Morphogenese des Embryos leicht zu bele-
gen, da sie vermutlich allgegenwärtig ist: ihre Triebkräfte sind Aktivierung und
Inhibition. Ein Abschnitt bei Lawrence 1992 (S. 164-170) trägt z.B. den Titel
„Competition - the evidence“. Behandelt wird dabei u.a. die Entstehung von
Borsten an bestimmten Stellen der Drosophila. Sobald eine Zelle in einem
bestimmten kleineren Feld von Zellen das Gen ausgedrückt hat, das zur Anlage
einer Borste führen wird, wird dadurch sogleich eine Borstenbildung auf Basis
der benachbarten Zellen inhibiert. Zerstört man (etwa mit einem Laserstrahl)
die Borstenzelle, so wird eine der umliegenden Zellen zu einer neuen Borsten-