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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0069
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Sprachliche Texte - Genetische Texte

61

phoneme
molecule
syllabe
arrangement moleculaire
mot
organelle cytoplasmique
syntagme
cellule
phrase
tissu
recit
organe
organisme
Population
communaute ecologique

Schema 8.5: Parallelisierung zwischen sprachlicher und biologischer
Hierarchiebildung (Rene Thom).

Erzählungen können in umfangreichere Texte eingebettet sein,
etwa in Romane; bestimmte Romane bilden ihrerseits wieder eine
hierarchisch höhere Einheit, etwa diejenige der Comedie humaine
Balzacs oder die des Alexandria Quartet von Lawrence Durrell; sol-
che Romanzyklen sind ihrerseits in literarische Traditionszusam-
menhänge eingebettet, etwa in den des „abendländischen Romans“
(„Intertextualität“); der wiederum gehört zur abendländischen
Schriftkultur insgesamt: Insofern wird es dem Leser nicht schwer
fallen, die Lücken auf der sprachlichen Seite der Hierarchie mit
Hilfe eigener Phantasie (oder mit Hilfe der Vorschläge, die etwa
Klaus Heger (1976) für sprachliche Einheiten höherer Rangstufe
gemacht hat), zu schließen.
Manfred Eigen und Ruthild Winkler parallelisieren Teilbereiche
und Differenzierungen (z.B. Wortarten) dieser Hierarchie:
Die „Wörter“ der Proteinsprache repräsentieren alle im Organismus
anfallenden Exekutivfunktionen: Reaktionsvermittlung, Steuerung oder
Transport. Wie in den Wortkombinationen unserer Sprache treten jeweils
mehrere - etwa vier bis acht - Symbole zu einer kooperativen Einheit
zusammen. Diese funktionell wirksamen Symbole sind in den Wortgebil-
den der Proteinsprache nicht einfach linear aneinandergereiht, sondern ent-
sprechend ihrer chemischen Aufgabe in bestimmter räumlicher Koordina-
tion angeordnet. Dies wiederum ist nur dadurch möglich, daß zwischen den
funktionell wichtigen Aminosäuren spezifisch faltbare Kettenstücke einge-
lassen sind, die allein dazu dienen, die strategisch wichtigen Aminosäuren
exakt im Raum zu fixieren. Obwohl also das aktive Zentrum - das eigentli-
che dreidimensionale Wortkorrelat der Proteinsprache - nicht mehr Schrift-
zeichen umfaßt als die Tätigkeitswörter unserer Sprachen, muß ein Protein-
molekül insgesamt ca. ein- bis fünfhundert Kettenglieder in sich vereinen,
um ein solches aktives Zentrum aufbauen zu können. Jedes dieser Mole-
küle repräsentiert eine bestimmte Tätigkeit, und man könnte die Enzyme
als die „Tätigkeitswörter“ der Molekülsprache bezeichnen.
 
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