21. Mai 2005
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logie, die bereits der Name Champs Elysees nahelegt, em mythischer Ort. Wenn die
Akazienallee zugleich eine Myrtenallee genannt wird, so verweist dies auf Virgils
Aeneis und den Abstieg des Äneas in die zeitlose Schattenwelt, wo er im Tal der
Tränen den um eine verlorene Liebe trauernden Frauen begegnet. Die Überlage-
rung einer Wirklichkeit mit einer Lektürereminiszenz schafft so eine imaginäre
Wirklichkeit neuer Art.
Balbec, das Seebad, das Marcel allein mit der Bahn reisend erreicht, um dort
die Großmutter zu treffen, ist erneut Schauplatz des Dramas zweier Zeitgestalten,
jener von Bahnhof und Kirche. Die Bahnreise, die fortreißt ins Unbekannte, ist wie
die Bilderfolge einer Laterna magica eine Folge zerrissener Jetztmomente, der Bahn-
hof von Balbec ein Tempel des Jetzt, der über die Kirche dominiert, die Marcel sich
so großartig vorgestellt hatte. Im Seebad selbst, wo ihn die Großmutter erwartet,
findet die Bedrängnis der Reise ihre Fortsetzung im Schrecken des neuen, unver-
trauten Zimmers, das Marcel nur erträglich wird durch die Nähe der Großmutter im
angrenzenden Raum. Die Begegnung mit Balbec ist wie ein Dammbruch des Jetzt.
Marcel erfährt das Meer staunend, erschreckt und fasziniert als unerschöpflichen,
uranfänglichen Generator des Augenblicklichen. Wo das europäische Festland sein
westliches Ende hat, in Finistere, fims terrae, wohnt Marcel dem Schauspiel des rei-
nen Jetzt bei. Marcel, der Sammler von Zeitgestalten, die er einmal als Schriftsteller
zu ihrer äußersten Plastizität ausarbeiten wird, macht in seinem Zimmer das Meer
im wechselnden Abendlicht, gespiegelt in den Spiegelgläsern derVitrmen der Biblio-
thek, zu einer impressionistischen Galerie reiner Jetzteffekte. Aber mit fasziniertem
Staunen sieht er auch die sich ins Zukünftige träumende Gestaltungskraft des Mee-
res in den gewaltigen, farbig glänzenden Fischen, die abends im Restaurant serviert
werden. So wird ihm em mächtiger Rochen zu einer „polychromen Kathedrale des
Meeres“12.
In dieser vor Jetztzeit vibrierenden Welt erscheint Marcel, als hätte das Meer
sie selbst geboren, inmitten der „kleinen Bande“ 13 ihrer Gefährtinnen, die junge
Albertine Simonet, die ihm nach Tante Leonie und Odette de Crecy zu seiner drit-
ten Allegorie oder Göttin der Zeit werden wird. Albertine ist eine gesteigerte Gil-
berte. Jeder Versuch, das flirrende Jetzt-Wesen Albertine in eine Gestalt zu bannen,
ist vergeblich. Sie gleicht darin den Bildern, die das bewegte Meer am Abend in
Marcels Zimmer wirft. Je mehr aber Marcel dem Sog des Jetzt verfällt, desto mehr
verliert er sich selbst und den Traum seiner Berufung zum Schriftsteller. Wo seine
neue Erfahrung zur Gestaltung drängt, erweist er sich zur Gestaltung am unfähig-
sten. Zwar ist Marcel unter dem Andrang des Jetzt von seinem literarischen Werk
weiter entfernt als je, doch gerade auf demTiefpunkt seines Selbstverlusts gewinnt er
in der Begegnung mit dem Maler Elstir entscheidende Hinweise für seine im Innern
langsam reifende Konzeption des nur scheinbar schon verlorenen Werks. Staunend
12 polychrome carpe de la mer; II, 55.
13 petite bande; II, 209.
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logie, die bereits der Name Champs Elysees nahelegt, em mythischer Ort. Wenn die
Akazienallee zugleich eine Myrtenallee genannt wird, so verweist dies auf Virgils
Aeneis und den Abstieg des Äneas in die zeitlose Schattenwelt, wo er im Tal der
Tränen den um eine verlorene Liebe trauernden Frauen begegnet. Die Überlage-
rung einer Wirklichkeit mit einer Lektürereminiszenz schafft so eine imaginäre
Wirklichkeit neuer Art.
Balbec, das Seebad, das Marcel allein mit der Bahn reisend erreicht, um dort
die Großmutter zu treffen, ist erneut Schauplatz des Dramas zweier Zeitgestalten,
jener von Bahnhof und Kirche. Die Bahnreise, die fortreißt ins Unbekannte, ist wie
die Bilderfolge einer Laterna magica eine Folge zerrissener Jetztmomente, der Bahn-
hof von Balbec ein Tempel des Jetzt, der über die Kirche dominiert, die Marcel sich
so großartig vorgestellt hatte. Im Seebad selbst, wo ihn die Großmutter erwartet,
findet die Bedrängnis der Reise ihre Fortsetzung im Schrecken des neuen, unver-
trauten Zimmers, das Marcel nur erträglich wird durch die Nähe der Großmutter im
angrenzenden Raum. Die Begegnung mit Balbec ist wie ein Dammbruch des Jetzt.
Marcel erfährt das Meer staunend, erschreckt und fasziniert als unerschöpflichen,
uranfänglichen Generator des Augenblicklichen. Wo das europäische Festland sein
westliches Ende hat, in Finistere, fims terrae, wohnt Marcel dem Schauspiel des rei-
nen Jetzt bei. Marcel, der Sammler von Zeitgestalten, die er einmal als Schriftsteller
zu ihrer äußersten Plastizität ausarbeiten wird, macht in seinem Zimmer das Meer
im wechselnden Abendlicht, gespiegelt in den Spiegelgläsern derVitrmen der Biblio-
thek, zu einer impressionistischen Galerie reiner Jetzteffekte. Aber mit fasziniertem
Staunen sieht er auch die sich ins Zukünftige träumende Gestaltungskraft des Mee-
res in den gewaltigen, farbig glänzenden Fischen, die abends im Restaurant serviert
werden. So wird ihm em mächtiger Rochen zu einer „polychromen Kathedrale des
Meeres“12.
In dieser vor Jetztzeit vibrierenden Welt erscheint Marcel, als hätte das Meer
sie selbst geboren, inmitten der „kleinen Bande“ 13 ihrer Gefährtinnen, die junge
Albertine Simonet, die ihm nach Tante Leonie und Odette de Crecy zu seiner drit-
ten Allegorie oder Göttin der Zeit werden wird. Albertine ist eine gesteigerte Gil-
berte. Jeder Versuch, das flirrende Jetzt-Wesen Albertine in eine Gestalt zu bannen,
ist vergeblich. Sie gleicht darin den Bildern, die das bewegte Meer am Abend in
Marcels Zimmer wirft. Je mehr aber Marcel dem Sog des Jetzt verfällt, desto mehr
verliert er sich selbst und den Traum seiner Berufung zum Schriftsteller. Wo seine
neue Erfahrung zur Gestaltung drängt, erweist er sich zur Gestaltung am unfähig-
sten. Zwar ist Marcel unter dem Andrang des Jetzt von seinem literarischen Werk
weiter entfernt als je, doch gerade auf demTiefpunkt seines Selbstverlusts gewinnt er
in der Begegnung mit dem Maler Elstir entscheidende Hinweise für seine im Innern
langsam reifende Konzeption des nur scheinbar schon verlorenen Werks. Staunend
12 polychrome carpe de la mer; II, 55.
13 petite bande; II, 209.