44 | JAHRESFEIER
und beglückt erfährt Marcel Elstirs Atelier als Ort einer Verwandlung der Wirklich-
keit, der Befreiung von den Zwängen der Nachahmung, als „Laboratorium einer Art
Neuerschaffung der Welt“ 14. Elstir ist em Künstler der kategorialen Entgrenzung, der
metaphore, der Schaffung neuer Übergänge, Korrespondenzen und Überlagerungen.
So gestaltet sein Bild des Hafens von Carquethuit die Elemente der Wirklichkeit der-
art, daß Meer- und Landassoziationen sich überraschend austauschen und destabili-
sieren. Aber Elstirs Kunst, die in Marcel plötzlich ein Glücksgefühl weckt, „die Mög-
lichkeit, mich zu einer dichterischen Erkenntnis zu erheben“15, bleibt einzig auf
Verhältnisse im Raum beschränkt und grenzt die Tiefe der Zeit aus. Diese muß Mar-
cel als seine Domäne entdecken, ehe er die vertikale, in die Tiefe der Zeit spiegeln-
de Metapher als das Medium seiner Dichtung erkennen wird.
Das Paris, das Marcel zum Ende der Badesaison bei seiner Rückkehr erwartet,
hat eine neue Gestalt. Marcels Familie wohnt jetzt im vornehmen Faubourg Saint-
Germain in einem Nebenflügel des Hotel de Guermantes. Im Umkreis der Guer-
mantes entbreitet sich eine neue gesellschaftliche Welt mit den glanzvollen Namen
einer mondänen Aristokratie. Zugleich öffnet sich die private Welt auf die Welt des
politischen Augenblicks mit ihrem Mittelpunkt, der Dreyfus-Affäre. In dem Maß,
wie nunmehr der Baron Charlus, Onkel Saint-Loups und Bruder des Herzogs de
Guermantes, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit tritt, bereitet sich aber auch
schon das große Thema männlicher und weiblicher Homosexualität in dem Paris
von Sodom und Gomorrha vor, in dessen Mitte Baron Charlus und Albertine stehen
werden.
Ein Besuch Albertines bei Marcel in seiner Pariser Wohnung ist der Anfang
einer neuen, erst ganz oberflächlich bleibenden erotischen Beziehung. Erst bei ihrer
neuen Begegnung in Balbec während des folgenden Sommers empfindet Marcel bei
allem Auf und Ab seiner Gefühle schließlich eine immer heftigere Leidenschaft für
Albertine.
Höhepunkt der neuen Gemeinsamkeit von Marcel und Albertine, die mehr als
Marcel den Luxus zu heben scheint, den er ihr verschafft, sind die gemeinsamen
Fahrten im Automobil. Wie einst die Kutschfahrt von Martinville verwandelt jetzt
die Beschleunigung der Fahrt durch die Landschaft diese in ein dynamisches Bezugs-
netz von Perspektiven und Jetztpunkten und gibt ihr damit eine prinzipiell neue
Erfahrbarkeit. Erneut wird die Landschaft so zu einer Zeitgestalt der vierten Dimen-
sion, die die Zeit in die Schwebe bringt, wie dies in den Bildern Elstirs mit dem Hier
und Dort geschieht. So sehr aber diese Fahrten eine beglückende Gemeinsamkeit
schaffen, so wenig verliert auch die neue Albertine das Mysterium ihrer den Blicken
Marcels sich entziehenden Existenz, die ihm mehr und mehr ihre lesbischen Nei-
gungen zu verbergen scheint. Marcels Verdacht wächst ebenso wie seine quälende,
vergeblich ihr Objekt suchende Eifersucht. Eine überstürzte Versöhnung nach einer
14 laboratoire d’une Sorte de nouvelle creation du monde; II, 190.
15 la possibilite de m’elever ä une connaissance poetique; II, 190.
und beglückt erfährt Marcel Elstirs Atelier als Ort einer Verwandlung der Wirklich-
keit, der Befreiung von den Zwängen der Nachahmung, als „Laboratorium einer Art
Neuerschaffung der Welt“ 14. Elstir ist em Künstler der kategorialen Entgrenzung, der
metaphore, der Schaffung neuer Übergänge, Korrespondenzen und Überlagerungen.
So gestaltet sein Bild des Hafens von Carquethuit die Elemente der Wirklichkeit der-
art, daß Meer- und Landassoziationen sich überraschend austauschen und destabili-
sieren. Aber Elstirs Kunst, die in Marcel plötzlich ein Glücksgefühl weckt, „die Mög-
lichkeit, mich zu einer dichterischen Erkenntnis zu erheben“15, bleibt einzig auf
Verhältnisse im Raum beschränkt und grenzt die Tiefe der Zeit aus. Diese muß Mar-
cel als seine Domäne entdecken, ehe er die vertikale, in die Tiefe der Zeit spiegeln-
de Metapher als das Medium seiner Dichtung erkennen wird.
Das Paris, das Marcel zum Ende der Badesaison bei seiner Rückkehr erwartet,
hat eine neue Gestalt. Marcels Familie wohnt jetzt im vornehmen Faubourg Saint-
Germain in einem Nebenflügel des Hotel de Guermantes. Im Umkreis der Guer-
mantes entbreitet sich eine neue gesellschaftliche Welt mit den glanzvollen Namen
einer mondänen Aristokratie. Zugleich öffnet sich die private Welt auf die Welt des
politischen Augenblicks mit ihrem Mittelpunkt, der Dreyfus-Affäre. In dem Maß,
wie nunmehr der Baron Charlus, Onkel Saint-Loups und Bruder des Herzogs de
Guermantes, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit tritt, bereitet sich aber auch
schon das große Thema männlicher und weiblicher Homosexualität in dem Paris
von Sodom und Gomorrha vor, in dessen Mitte Baron Charlus und Albertine stehen
werden.
Ein Besuch Albertines bei Marcel in seiner Pariser Wohnung ist der Anfang
einer neuen, erst ganz oberflächlich bleibenden erotischen Beziehung. Erst bei ihrer
neuen Begegnung in Balbec während des folgenden Sommers empfindet Marcel bei
allem Auf und Ab seiner Gefühle schließlich eine immer heftigere Leidenschaft für
Albertine.
Höhepunkt der neuen Gemeinsamkeit von Marcel und Albertine, die mehr als
Marcel den Luxus zu heben scheint, den er ihr verschafft, sind die gemeinsamen
Fahrten im Automobil. Wie einst die Kutschfahrt von Martinville verwandelt jetzt
die Beschleunigung der Fahrt durch die Landschaft diese in ein dynamisches Bezugs-
netz von Perspektiven und Jetztpunkten und gibt ihr damit eine prinzipiell neue
Erfahrbarkeit. Erneut wird die Landschaft so zu einer Zeitgestalt der vierten Dimen-
sion, die die Zeit in die Schwebe bringt, wie dies in den Bildern Elstirs mit dem Hier
und Dort geschieht. So sehr aber diese Fahrten eine beglückende Gemeinsamkeit
schaffen, so wenig verliert auch die neue Albertine das Mysterium ihrer den Blicken
Marcels sich entziehenden Existenz, die ihm mehr und mehr ihre lesbischen Nei-
gungen zu verbergen scheint. Marcels Verdacht wächst ebenso wie seine quälende,
vergeblich ihr Objekt suchende Eifersucht. Eine überstürzte Versöhnung nach einer
14 laboratoire d’une Sorte de nouvelle creation du monde; II, 190.
15 la possibilite de m’elever ä une connaissance poetique; II, 190.