48 | JAHRESFEIER
ich entschieden hatte, daß er einzig aus wahrhaft vollen Impressionen bestehen
sollte, jenen, die der Zeit enthoben sind, würden unter den Wahrheiten, mit
denen ich sie einfassen wollte, jene, die sich auf die Zeit beziehen, auf die Zeit,
in der die Menschen, die Gesellschaften, die Nationen leben und sich ändern,
einen bedeutenden Platz einnehmen.19
Dies ist die letzte Instanz der Rettung vom Schrecken des leeren Augenblicks: Das
Ich von A la recherche du temps perdu wird sich begreifen im Horizont einer Legende
der Zeiten, die vom Uranfänglichen über alle Kulturepochen bis zur avanciertesten
Gegenwart führt und in deren Horizont das Ich sich in seinen Schichtungen erst
wahrhaft seiner selbst vergewissern kann. Der Futurismus postulierte programma-
tisch eine Ästhetik des Jetzt. Dem antwortet Proust mit einem Zeitroman, der alle
Phänomene des Jetzt aufnimmt und mit philosophischem Staunen betrachtet, aber
zugleich die Schichtungen der kulturellen Zeit von der Antike und der alttestamen-
tarischen Welt der Väter bis zur Gegenwart als em Chronotop vergegenwärtigt, in
dem Marcel seine eigene Zeitlichkeit erfährt.
Marcels letzte, ungenannte Kammer in der Flucht der Kammern, die im
Innern seiner Zeitgehäuse ihren Ort haben, ist die Kammer seines Double Marcel
Proust, dessen letzte Gewohnheit zu jener „Gewohnheit, arbeitsam zu sein“, „habi-
tude d’etre laborieux“20, geworden ist, zu der der Marcel von Balbec sich einst so
unfähig glaubte. Nicht zufällig aber erinnert diese habitude d’etre laborieux an das
laboratoire, das Laboratorium Elstirs, der mit den Elementen der Welt experimen-
tiert und ihnen die Gestalt der räumlichen Metapher gibt: Prousts Schreiblaborato-
rium ist ein Laboratorium vertikaler Zeitmetaphern, die die Linearität der Zeit auf-
brechen, aber nur um so neue Zeltgestalten zu erschaffen. Prousts spätes, dem Zeit-
druck abgenötigtes Werk ist zweifach lesbar, ja verlangt notwendig die zweifache
Lektüre: als die lange Geschichte von Marcels Weg zu seinem Zeitkunstwerk und als
dieses Werk selbst in der unabsehbaren Dichte und Tiefe seiner vor- und zurück-
greifenden Bezüge, als Kathedrale, deren vierte Dimension die Zeit ist und die den-
noch der Zeit widersteht.
19 Sans doute la cruelle decouverte que je venais de faire ne pourrait que nie servir en ce qui con-
cernait la matiere meme de mon livre. Puisque j’avais decide qu’elle ne pouvait etre uniquement
constituee par les impressions veritablement pleines, celles qui sont en dehors du temps, parmi
les verites avec lesquelles je comptais les sertir, celles qui se rapportent au temps, au temps dans
lequel baignent et changent les hommes, les societes, les nations, tiendraient une place importan-
te. IV, 510.
20 I, 172.
ich entschieden hatte, daß er einzig aus wahrhaft vollen Impressionen bestehen
sollte, jenen, die der Zeit enthoben sind, würden unter den Wahrheiten, mit
denen ich sie einfassen wollte, jene, die sich auf die Zeit beziehen, auf die Zeit,
in der die Menschen, die Gesellschaften, die Nationen leben und sich ändern,
einen bedeutenden Platz einnehmen.19
Dies ist die letzte Instanz der Rettung vom Schrecken des leeren Augenblicks: Das
Ich von A la recherche du temps perdu wird sich begreifen im Horizont einer Legende
der Zeiten, die vom Uranfänglichen über alle Kulturepochen bis zur avanciertesten
Gegenwart führt und in deren Horizont das Ich sich in seinen Schichtungen erst
wahrhaft seiner selbst vergewissern kann. Der Futurismus postulierte programma-
tisch eine Ästhetik des Jetzt. Dem antwortet Proust mit einem Zeitroman, der alle
Phänomene des Jetzt aufnimmt und mit philosophischem Staunen betrachtet, aber
zugleich die Schichtungen der kulturellen Zeit von der Antike und der alttestamen-
tarischen Welt der Väter bis zur Gegenwart als em Chronotop vergegenwärtigt, in
dem Marcel seine eigene Zeitlichkeit erfährt.
Marcels letzte, ungenannte Kammer in der Flucht der Kammern, die im
Innern seiner Zeitgehäuse ihren Ort haben, ist die Kammer seines Double Marcel
Proust, dessen letzte Gewohnheit zu jener „Gewohnheit, arbeitsam zu sein“, „habi-
tude d’etre laborieux“20, geworden ist, zu der der Marcel von Balbec sich einst so
unfähig glaubte. Nicht zufällig aber erinnert diese habitude d’etre laborieux an das
laboratoire, das Laboratorium Elstirs, der mit den Elementen der Welt experimen-
tiert und ihnen die Gestalt der räumlichen Metapher gibt: Prousts Schreiblaborato-
rium ist ein Laboratorium vertikaler Zeitmetaphern, die die Linearität der Zeit auf-
brechen, aber nur um so neue Zeltgestalten zu erschaffen. Prousts spätes, dem Zeit-
druck abgenötigtes Werk ist zweifach lesbar, ja verlangt notwendig die zweifache
Lektüre: als die lange Geschichte von Marcels Weg zu seinem Zeitkunstwerk und als
dieses Werk selbst in der unabsehbaren Dichte und Tiefe seiner vor- und zurück-
greifenden Bezüge, als Kathedrale, deren vierte Dimension die Zeit ist und die den-
noch der Zeit widersteht.
19 Sans doute la cruelle decouverte que je venais de faire ne pourrait que nie servir en ce qui con-
cernait la matiere meme de mon livre. Puisque j’avais decide qu’elle ne pouvait etre uniquement
constituee par les impressions veritablement pleines, celles qui sont en dehors du temps, parmi
les verites avec lesquelles je comptais les sertir, celles qui se rapportent au temps, au temps dans
lequel baignent et changent les hommes, les societes, les nations, tiendraient une place importan-
te. IV, 510.
20 I, 172.