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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2005
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Antrittsreden
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Hausmann, Frank-Rutger: Antrittsrede vom 19. Januar 2005
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https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0102
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Frank-Rutger Hausmann

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Lebensberichts, ein Verfasser von autobiographischen Texten zumindest subjektiv die
Wahrheit sagen müsse. Das kann ich Ihnen für meine heutige Vorstellung zusichern.
Serge Doubrovsky, em anderer Literaturkritiker und namhafter Autor, geht noch
einen Schritt weiter und spricht generell von Autofiktion, nicht mehr von Autobio-
graphie. Er macht, den Saussureschen Gegensatz von Sprache als System und Spra-
che als individueller Rede aufgreifend, deutlich, daß jegliches Sprechen als Ausdruck
einer individuellen Sozialisation fiktional ist. Im Wissen um die Schwierigkeiten, ja
die Unmöglichkeit von Objektivität, will ich Ihnen meinen akademischen Lebens-
lauf, meine „akademische Autofiktion“ sozusagen, nicht zu selbstbewußt, aber auch
nicht zu verhalten in gebotener Kürze vortragen. Autobiographischen Entwürfen
wird meist eine Teleologie unterlegt, und ich will mich da nicht ausschließen: Ich
wurde am 5. Februar 1943 in Hannover geboren, eher zufällig, weil mein Vater dem
dortigen Generalkommando als Oberstabsarzt zugewiesen war. Er zog erst im Herbst
1940 ms Feld, und zwar zunächst mit einem Lehrbatallaion nach Rumänien, wo, für
Insider unübersehbar, der Aufmarsch gegen die Sowjetunion begann. Er gehörte zur
Südarmee und machte alle Kampfhandlungen mit. Auf seinen Feldzügen kam er bis
in die Nähe von Grosny, das uns heute als gepeinigte Hauptstadt Tschetscheniens
gelegentlich in den Fernsehnachrichten begegnet. Im August 1944 wurde er in
Rumänien als vermißt gemeldet und 1958 für tot erklärt. Im ovidianischen Sinne
bin ich demnach zwar keine „proles sine patre creata“, jedoch sicherlich eine
„proles sine patre creta“. Ich wuchs in Bergneustadt im bergischen Land auf, woher
beide Eltern stammten und wohin meine Mutter bereits im Sommer 1943 vor den
Hannover zerstörenden Bombenangriffen zurückkehrte. Schon früh ging ich auf
systematische Spurensuche nach meinem Vater. Bereits als Junge habe ich Über-
lebende seiner Feldpostnummer schriftlich wie mündlich nach seinem Verbleib
befragt, habe seine Briefe und Kriegstagebücher ausgewertet und Hunderte von
Photos gesichtet, die er auf seinen Feldzügen von Rumänien bis in den Kaukasus
geschossen hatte. Es war dies der Beginn einer lebenslangen Sammel- und Archiv-
tätigkeit, die ich später zum Beruf machen konnte. Diese Tätigkeit blieb sich in der
Methode im Prinzip immer gleich, erprobte sich nur an neuen Gegenständen. Der
Bogen spannte sich von der Paläographie spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher
Handschriften über die Inkunabulistik und frühneuzeitliche Buchkunde, die italia-
nistische wie französistische Renaissanceforschung, die allgemeine Übersetzungswis-
senschaft bis hin zur Erforschung der europäischen Kollaboration in der NS-Zeit.
Immer wurden dabei unbekannte Quellen, meist Briefe, aus diversen deutschen und
europäischen Bibliotheken und Archiven gehoben, publiziert und ausgewertet. Auf
meinen Forschungsreisen lernte ich so die großen westeuropäischen Bibliotheken
und Archive von London bis Rom und von Berlin bis Madrid kennen und die welt-
vergessene Arbeit in ihnen lieben.
Ein zweites Recherchefeld, bei dem „oral history“ und Archivstudien ver-
quickt wurden, war die Befassung mit der Verwandtschaft meiner Großmutter väter-
licherseits, deren einer Bruder nach Südafrika ausgewandert war, wo er 1908 in Kap-
stadt ein Ordinariat für Elektrotechnik erhielt und als Deutschnationaler 1932 die
südafrikanische Ortsgruppe der Auslandsorganisation (AO) der NSDAP gründete.
 
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