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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0016
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Einleitung des Herausgebers

XV

auch der lebensphilosophisch-hermeneutischen Denktradition (P. Yorck von Warten-
burg, W. Dilthey) wurde damit das Problem thematisiert, ob sich der Mensch aufgrund
seiner notwendigen Verflochtenheit in den zeitlichen Ablauf des realen Geschichts-
prozesses selber in seinem Wesen, Denken und den Produktionen seines Geistes stän-
dig verändert. Wäre dies der Fall, dann sei jede geschichtswissenschaftliche Deutung
von historischen Ereignissen vom jeweiligen geschichtlichen Standort (Zeitgeist,
Lebenssituation) des Interpreten abhängig, von dem aus die Deutung erfolgt.
Im existenzphilosophischen Verständnis dient der Begriff der Geschichtlichkeit
der Kennzeichnung eines zentralen Moments der Subjektivitätsstruktur (Existenz,
Selbstsein, eigentliches Dasein) im Zusammenhang mit der unausweichlichen Situa-
tionsgebundenheit des Menschen.21 Für Heidegger ist die Geschichtlichkeit, ebenso
wie das In-der-Welt-Sein, die Sorge, das Vorlaufen zum Tode usw., ein grundlegendes
fundamentalontologisches Existenzial des menschlichen Daseins. Die Geschicht-
lichkeit als »Grundverfassung« des Daseins bildet die zentrale Voraussetzung für das
Verstehen von Geschichte als objektivem Geschehensverlauf. »Das Dasein hat fak-
tisch je seine >Geschichte< und kann dergleichen haben, weil das Sein dieses Seienden
durch Geschichtlichkeit konstituiert ist.«22 In Gadamers Hermeneutik wird mit »Ge-
schichtlichkeit« auf die Vor-Urteilsstruktur (Vor-Urteil im Sinne von Voraus-Urteil)
des Subjekts hingewiesen, die sich aus dessen lebensweltlicher Einbettung in einen
Traditionszusammenhang ergibt. Erst die Einsicht in die »eigene Geschichtlichkeit
des Verstehens« ermöglicht ein annähernd zutreffendes Verständnis von historischen
Ereignissen und realgeschichtlichen Zusammenhängen.23
In Jaspers’ Existenzphilosophie ist der Begriff der Geschichtlichkeit eng mit der
These von der »überrationalen«, existentiellen Dimension des Menschseins verbun-
den. Dieser Begriff verweist einerseits auf den Menschen als ein Lebewesen, das durch
unausweichliches In-Situation-Sein und kontingente, empirisch erforschbare Seins-
weisen gekennzeichnet ist (in Jaspers’ anthropologischer Konzeption: das bloße Da-
sein, das »Bewußtsein überhaupt«, der Geist). Andererseits wird dieser Begriff aber
auch als Hinweis auf die nicht empirisch-rational erfassbare, existentielle Seinsmög-
lichkeit des Menschen verwendet, d.h. auf die »Existenz«, das »eigentliche Selbstsein«,
die »existentielle Freiheit« und den Bezug zur »Transzendenz«.24 Gegen Jaspers’ exis-
tentielles Verständnis von Geschichte und Geschichtlichkeit wurde vor allem der

21 Vgl. das Kapitel »Die Geschichtlichkeit«, in: O. F. Bollnow: Existenzphilosophie, Stuttgart 6i9ö4,
112-122, sowie den Artikel »Geschichtlichkeit«, in: Lexikon Existenzialismus und Existenzphiloso-
phie, hg. von U. Thurnherr und A. Hügli, Darmstadt 2007,112-114.
22 M. Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen I5i979, 382.
23 Vgl. den Abschnitt II,1 »Geschichtlichkeit des Verstehens«, in: H. G. Gadamer: Wahrheit und
Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen H975,250-290.
24 Vgl. den Abschnitt »Geschichtlichkeit« im 1. Hauptkapitel des 2. Bandes des Hauptwerks Philo-
sophie (K. Jaspers: Philosophie II, 118-148).
 
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