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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0047
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

schäft in Sinnfragen und gegenseitiger Verstehbarkeit; man denkt schließlich eine
einzige Sinneinheit, in der alles Mannigfaltige seinen Platz hat2 (Hegel)'.
Wer sich der Geschichte zuwendet, vollziehtunwillkürlich solche universalen, das
Ganze der Geschichte zur Einheit bringenden Anschauungen. Diese mögen unkri-
tisch, ja unbewußt und daher unbefragt bleiben. In geschichtlichen Denkungsweisen
pflegen sie als Selbstverständlichkeiten vorausgesetzt zu werden.
So galt im 19. Jahrhundert als Weltgeschichte, was nach den Vorstufen Ägyptens
und Mesopotamiens in Griechenland und Palästina begann und zu uns geführt hat -
das übrige gehörte in das Gebiet der Völkerkunde und lag außerhalb der eigentlichen
Geschichte. Weltgeschichte war Geschichte des Abendlandes (Ranke).3
Dagegen sollte nun im Positivismus des 19. Jahrhunderts allen Menschen gleiches
Recht werden. Geschichte ist, wo Menschen leben. Die Weltgeschichte umspannt in
Zeit und Raum den Erdball. Sie wird nach ihrer Verteilung im Raum geographisch an-
geordnet (Helmolt).4 Überall auf der Erde fand sie statt. Negerkämpfe im Sudan lagen
auf gleichem historischem Niveau mit Marathon und Salamis, ja waren vielleicht
durch Massen an Menschenaufgebot bedeutender.
Rangordnung und Struktur schienen in der Geschichte wieder durch die Anschau-
ung von einheitlichen Kulturen fühlbar zu werden". Aus der Masse bloß naturhaften
menschlichen Daseins wachsen - so war die Anschauung - Kulturen gleichsam wie
Organismen als selbständige Lebensgebilde, die Anfang und Ende haben, sich gegen-
seitig nichts angehen, wohl aber sich einmal treffen und stören können. Spengler5
kennt acht, Toynbee6 einundzwanzig solcher Geschichtskörper. Spengler gibt ihnen
eine Lebensdauer von tausend Jahren, Toynbee eine unbestimmte. Spengler sieht die
17 Notwendigkeit eines geheimnisvollen Totalprozesses | des jeweiligen Kulturkörpers,
eine Metamorphose, deren Gesetzmäßigkeit er morphologisch aus den Analogien zwi-
schen den Phasen der verschiedenen Kulturkörper zu erkennen meint, ihm wird alles
Symbol im physiognomischen Bilde. Toynbee vollzieht eine vielfache kausale Analyse
unter soziologischen Gesichtspunkten. Er gibt darüber hinaus den freien Entschlüs-
sen des Menschen Raum, aber derart, daß auch nach ihm das Ganze in der Anschau-
ung eines jeweils notwendigen Prozesses vor Augen tritt. Beide machen daher aus ih-
rer Gesamtanschauung heraus Voraussagen für die Zukunft"'.

i Für die Geschichtsphilosophie sind von unvergänglicher Bedeutung die einschlägigen Schriften
von Vico, Montesquieu, - Lessing, Kant, - Herder, Fichte, Hegel, - Marx, Max Weber. - Eine Über-
sicht geben: Johannes Thyssen, Geschichte der Geschichtsphilosophie, Berlin 1936. - R. Rocholl, Die
Philosophie der Geschichte. Band I, Göttingen 1878.
ü O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918. Alfred Weber, Kulturgeschichte als Kultursozio-
logie, Leiden 1935. - Das Tragische und die Geschichte, Hamburg 1943. - Abschied von der bisherigen
Geschichte, Hamburg 1946. Toynbee, A Study ofHistory, London 1935 ff.
üi Toynbee ist dabei vorsichtig. Er durchbricht oder überwölbt sein Bild durch christliche Anschau-
ung. Grundsätzlich könnte nach ihm eine Kultur ohne Untergang fortbestehen. Es gilt für sie
 
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