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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0078
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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Dabei haben wir nicht einmal eine endgiltige und genügende Antwort auf die
Frage: was ist der Mensch? Was der Mensch sei, darauf können wir keine vollständige
Antwort geben.28 Daß wir nicht wissen, was der Mensch eigentlich ist, auch das gehört
zum Wesen unseres Menschseins. Die Vergegenwärtigung des Problems des Werdens
des Menschen in Vorgeschichte und Geschichte bedeutet zugleich eine Vergegenwär-
tigung der Frage nach dem Wesen des Menschseins.
In der Vorgeschichte liegt nun zweierlei, die biologische Entwicklung des Men-
schen und seine in der Vorgeschichte stattfindende, auch ohne Schrift doch Überlie-
ferung schaffende geschichtliche Entwicklung. Beides scheint zunächst seiner Reali-
tät und seiner Erforschungsweise nach zu trennen notwendig:
Biologische Entwicklung bringt vererbbare Eigenschaften, geschichtliche Entwick-
lung nur Überlieferung. Das Vererbbare ist beständig; Überlieferung kann in kürzester
Frist zerstört und vergessen werden. Biologische Wirklichkeit ist faßbar in Gestalt,
Funktion und psychophysischen Eigenschaften des Leibes; Überlieferungswirklich-
keit ist faßbar in Sprache, Benehmensweisen, Werken.
Mit der Menschwerdung müssen in langen Jahrhunderttausenden die Grundzüge
des Menschseins sich als vererbbare biologische Qualitäten, die heute da sind, fixiert
haben. In geschichtlicher Zeit dagegen ist biologisch mit dem Menschen keine nach-
weisliche Verwandlung vor sich gegangen. Wir »haben nicht die geringsten Anzeichen
dafür, daß in der wissenschaftlich kontrollierbaren geschichtlichen Periode der Anla-
geschatz der Neugeborenen sich modifiziert habe« (Portmann)29.
Die zwei Betrachtungsweisen und die ihnen entsprechenden Wirklichkeiten - die
biologische und die geschichtliche - koinzidieren nicht. Es sieht äußerlich so aus, als
ob die eine, die menschlich-geschichtliche Entwicklung, die andere, die biologische
zum Menschen, fortsetze. Was wir Geschichte nennen, hat, so scheint es, mit der bio-
logischen Entwicklung nichts zu tun.
| Nun ist aber das Menschsein doch in der Tat das, worin sich das Biologische und
Geschichtliche unlösbar verbinden. Nach der begrifflichen Trennung ist alsbald die
Frage: welche biologischen Folgen hat das Geschichtliche? - welche biologischen Rea-
litäten sind etwa Ursache geschichtlicher Möglichkeiten?
Die Biologie des Menschen selber ist, wenn sie gelingt, vielleicht irgendwie unter-
schieden von aller anderen Biologie.
Wie aber biologische Entwicklung und geschichtliche Verwandlung ineinander
wirken, das ist uns wiederum im Ganzen undurchschaubar. Wir haben merkwürdige
Tatbestände in der Geschichte, in der Gegenwärtigkeit unserer selbst, in der Vorge-
schichte und bei Naturvölkern, aus denen man Hypothesen entwirft von Wegen, die
zu ihnen geführt haben. Das sind Versuche, deren Fragen begründet, deren Antwor-
ten wahrscheinlich bis heute durchweg falsch sind.
Sehen wir, was angesichts der doppelten Vorgeschichte uns etwa an Eigenschaften
des Menschen auffallen kann.

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