Vom Ursprung und Ziel der Geschichte
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Es gibt Charaktereigenschaften wie eine eigentümliche, keineswegs allen Tieren,
wohl aber manchen Affen zukommende Bosheit. Es gibt bei den Schimpansen gleich-
sam biologische Charaktere von Gutmütigkeit, Quäldrang, Intelligenz und Dummheit
vor allem Menschsein. Vielleicht gibt es auch ein in diesem Sinne biologisches Mensch-
sein. Unser Untergrund an Trieben, | Neigungen reicht tief ins Biologische, und kann 60
uns gelegentlich in uns selbst als Fremdes gegenübertreten, das uns erschreckt.
Das alles wäre nicht spezifisch menschlich. Portmann hat zum erstenmal grund-
sätzlich auf biologischem Wege zu dem Spezifischen des Menschseins vorzudringen
versucht!1
Er macht z. B. auf folgendes aufmerksam: Der neugeborene Mensch ist anders wie
die Säuger sonst: Seine Sinnesorgane sind entwickelt, Hirn- und Körpergewicht viel
höher als bei Affen, - trotzdem ist er vergleichsweise eine Frühgeburt, nämlich ganz
hilflos. Er kann nicht stehen und laufen. Das erste Lebensjahr des Menschen fordert
Reifung von Funktionen, die bei den anderen Säugern noch vor der Geburt ausreifen.
Der Mensch lebt sein erstes Lebensjahr schon in der Welt, obgleich er - am neugebo-
renen Tier gemessen - noch intrauterin wachsen müßte. Zum Beispiel gewinnt seine
Wirbelsäule erst durch Aufrichten und Stehen die S-Form. Wie das geschieht: durch
instinktiven Drang, Nachahmen der Erwachsenen, gefördert durch deren Interesse
und Anregung, in jedem Falle wird durch die geschichtlich bestimmte Umwelt die er-
ste körperliche Reifung schon mitbedingt. Im Biologischen selber ist der Geist schon
mitwirkend. Wahrscheinlich besteht eine große, lebenprägende Bedeutung der Erleb-
nisse und Erfahrungen des ersten Lebensjahres, des Jahres des biologischen Reifens der
elementaren Funktionen, die bei Tieren im embryonalen Zustand erworben werden.
Kurz: »Im Gegensatz zu allen höheren Tieren erwirbt der Mensch seine ihm eigene
Daseinsform im ,Freien', in offener, reicher Beziehung zu Farben und Formen, zu
lebenden Wesen, vor allem zu den Menschen selber«, - während das Tier mit seiner
ausgebildeten Daseinsform geboren wird.
Die Sonderart des Menschen liegt daher für Portmann nicht schon in morpholo-
gischen und physiologischen Greifbarkeiten des Leibes. Es genügen zur Charakteristik
des Menschen nicht die Nachweise, wie die Folge geht von der Umrißlinie des Affen-
kiefers über die Kieferprofile des Frühmenschen und des Neandertalers schließlich
zum vorspringenden Kinn der jetzigen Menschenform.
Das Wesentliche ist vielmehr die Daseinsweise des Menschen im Ganzen. »Wir fin-
den im Menschen eine Lebensform, die | durch und durch etwas Besonderes ist. So vie- 61
les auch dem tierischen Leib und tierischem Verhalten entspricht, so sehr ist doch der
ganze Mensch durchformt als etwas anderes. Jedes Glied unseres Körpers, jede unse-
Adolf Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1944. - Vom Ursprung des
Menschen, Basel 1944. - Aus meiner Schrift Der philosophische Glaube (München 1948, Zürich 1948)
die dritte Vorlesung: Der Mensch.
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Es gibt Charaktereigenschaften wie eine eigentümliche, keineswegs allen Tieren,
wohl aber manchen Affen zukommende Bosheit. Es gibt bei den Schimpansen gleich-
sam biologische Charaktere von Gutmütigkeit, Quäldrang, Intelligenz und Dummheit
vor allem Menschsein. Vielleicht gibt es auch ein in diesem Sinne biologisches Mensch-
sein. Unser Untergrund an Trieben, | Neigungen reicht tief ins Biologische, und kann 60
uns gelegentlich in uns selbst als Fremdes gegenübertreten, das uns erschreckt.
Das alles wäre nicht spezifisch menschlich. Portmann hat zum erstenmal grund-
sätzlich auf biologischem Wege zu dem Spezifischen des Menschseins vorzudringen
versucht!1
Er macht z. B. auf folgendes aufmerksam: Der neugeborene Mensch ist anders wie
die Säuger sonst: Seine Sinnesorgane sind entwickelt, Hirn- und Körpergewicht viel
höher als bei Affen, - trotzdem ist er vergleichsweise eine Frühgeburt, nämlich ganz
hilflos. Er kann nicht stehen und laufen. Das erste Lebensjahr des Menschen fordert
Reifung von Funktionen, die bei den anderen Säugern noch vor der Geburt ausreifen.
Der Mensch lebt sein erstes Lebensjahr schon in der Welt, obgleich er - am neugebo-
renen Tier gemessen - noch intrauterin wachsen müßte. Zum Beispiel gewinnt seine
Wirbelsäule erst durch Aufrichten und Stehen die S-Form. Wie das geschieht: durch
instinktiven Drang, Nachahmen der Erwachsenen, gefördert durch deren Interesse
und Anregung, in jedem Falle wird durch die geschichtlich bestimmte Umwelt die er-
ste körperliche Reifung schon mitbedingt. Im Biologischen selber ist der Geist schon
mitwirkend. Wahrscheinlich besteht eine große, lebenprägende Bedeutung der Erleb-
nisse und Erfahrungen des ersten Lebensjahres, des Jahres des biologischen Reifens der
elementaren Funktionen, die bei Tieren im embryonalen Zustand erworben werden.
Kurz: »Im Gegensatz zu allen höheren Tieren erwirbt der Mensch seine ihm eigene
Daseinsform im ,Freien', in offener, reicher Beziehung zu Farben und Formen, zu
lebenden Wesen, vor allem zu den Menschen selber«, - während das Tier mit seiner
ausgebildeten Daseinsform geboren wird.
Die Sonderart des Menschen liegt daher für Portmann nicht schon in morpholo-
gischen und physiologischen Greifbarkeiten des Leibes. Es genügen zur Charakteristik
des Menschen nicht die Nachweise, wie die Folge geht von der Umrißlinie des Affen-
kiefers über die Kieferprofile des Frühmenschen und des Neandertalers schließlich
zum vorspringenden Kinn der jetzigen Menschenform.
Das Wesentliche ist vielmehr die Daseinsweise des Menschen im Ganzen. »Wir fin-
den im Menschen eine Lebensform, die | durch und durch etwas Besonderes ist. So vie- 61
les auch dem tierischen Leib und tierischem Verhalten entspricht, so sehr ist doch der
ganze Mensch durchformt als etwas anderes. Jedes Glied unseres Körpers, jede unse-
Adolf Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1944. - Vom Ursprung des
Menschen, Basel 1944. - Aus meiner Schrift Der philosophische Glaube (München 1948, Zürich 1948)
die dritte Vorlesung: Der Mensch.