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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0089
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

tion doch noch etwas Unerwachtes hat. Eine spezifische technische Rationalisierung
entspricht dem Unerwachtsein ohne eigentliche Reflexion.
In den großen Gemeinschaften ist alles befangen durch die anschaulichen Bilder
des Seins, gebunden in fraglosen Ordnungen. Es ist unproblematisch ein Sosein, das
man ausspricht, und dem man folgt. Die menschlichen Grundfragen sind eingebettet
in heiliges Wissen magischen Charakters, nicht aufgebrochen in die Ruhelosigkeit des
Suchens - außer in den wenigen ergreifenden Ansätzen (diese Spuren des Erwachens
bleiben unentfaltet). Einen kräftigen Ansatz vollzieht das Denken der Gerechtigkeit
in Ägypten und besonders in Babylonien. Aber die Sinnfrage wird nicht ausdrücklich
gestellt. Es ist, als ob die Antwort vor der Frage da wäre.
Die Ähnlichkeit der Zustände und Entwicklungen läßt nach einem gemeinsamen
Grund suchen. In allen Zeiten verbreiteten sich langsam Werkzeuge und Ideen über die
Erdoberfläche. Wir suchen jeweils nach einem Zentrum, von dem die Verbreitung ei-
nes Neuen ausgehe. Man macht in diesem Sinne die Hypothese von der begründenden
und universalen Bedeutung der Sumerer am Euphrat, von denen die entscheidenden
Einflüsse bis Ägypten und China ausstrahlen. Aber das ist in solchem Ausmaß unbewie-
sen. Man bildet die fragwürdige Hypothese von dem Kulturzentrum in Asien - etwa in
Westkurdistan und am Kaspischen Meer -, von dem, einst in feuchterer Erdperiode ein
blühendes Reich der Kultur, bei Austrocknung die Auswanderung nach allen Richtun-
gen erfolgte. Dadurch fand die Begründung der Kulturen über den asiatisch-europä-
ischen Kontinent von China bis Ägypten statt. Aber der Blick in den Abgrund der Vor-
geschichte trifft hier auf keinen durch Erfahrung zwingend bestätigten Boden.
Hat doch vielleicht das Gemeinsame einen gemeinsamen Grund, so bleibt uns nur
74 die ganz unbestimmte Vorstellung der | vorgeschichtlichen Tiefe Asiens. Es war eine
lange gemeinsame Vorgeschichte Totalasiens, von dem Europa eine Halbinsel ist.
Aber auch die Unterschiede zwischen den verschiedenen alten Hochkulturen sind
beträchtlich. Wir spüren je den Geist eines Ganzen, der durchaus eigentümlich ist. In
China gibt es nur Ansätze von Mythen, von vornherein kosmische Ordnungsvorstel-
lungen in Maß und lebendiger Naturanschauung mit einer natürlichen Menschlich-
keit. Im Zweistromland ist eine Härte und Kraft, etwas Dramatisches, im frühen Gil-
gamesch-Epos tragisch Berührtes. In Ägypten ist eine Heiterkeit der Lebensfreude im
Intimen bei einer Verschleierung des Lebens durch den nivellierenden Arbeitszwang,
ein hohes Stilgefühl feierlicher Größe.
Bis in die Wurzel des Geistes reicht der Unterschied der Sprache. Die chinesische
Sprache ist von den westlichen Sprachen so radikal verschieden in der Struktur, nicht
nur in den Wortwurzeln, daß man sich die Herkunft aus einer gemeinsamen Urspra-
che kaum vorstellen kann. Besteht diese doch, so muß der Prozeß, der zu dieser Ver-
schiedenheit geführt hat, so lange gedauert haben, daß die gemeinsame Herkunft aus
einer zentralasiatischen, an der Grenze der Vorgeschichte lebendigen Kultur sehr un-
wahrscheinlich wird.
 
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