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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0097
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

Die Gliederung der abendländischen Geschichte zeigt folgende Abschnitte:
Dreitausend Jahre Babylonien und Ägypten bis etwa zur Mitte des letzten Jahrtau-
sends vor Christus.
Eintausend Jahre, begründet auf den Durchbruch der Achse, die Geschichte der Ju-
den, Perser, Griechen, Römer, in der sich das Abendland bewußt konstituiert, von der
Mitte des letzten vorchristlichen bis zur Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends.
Seit der Spaltung in Ost und West um die Mitte des ersten Jahrtausends nach Chr.
erwächst im Westen nach einem Intervall von rund 500 Jahren die neue abendländi-
sche Geschichte der romanisch-germanischen Völker, etwa mit dem zehnten Jahrhun-
dert nach Christus, und dauert nun etwa ein Jahrtausend. Im Osten lebte Konstanti-
nopel sein Reich und seine Kultur in Kontinuität noch fort bis ins 15. Jahrhundert.
Dort formierte sich durch den Islam in ständiger Fühlung mit Europa wie mit Indien
der heutige vorderasiatische Orient.
In diesem Gang durch die Jahrtausende hat das Abendland seine Schritte mit einer
Entschiedenheit getan, Bruch und Sprung nicht gescheut, die Radikalität in die Welt
gebracht, wie es in diesem Umfang weder in China noch in Indien geschehen ist. Die
Differenzierung in die Mannigfaltigkeit von Sprachen und Völkern ist in Indien und
China vielleicht nicht geringer. Aber die Differenzierung wird dort nicht im Kampf
zur Grundlage der plastischen Abhebung der Verwirklichungen voneinander, nicht
84 zum geschichtlichen Aufbau einer Welt, in der die besonderen | Gestaltungen eine
Energie und Konsequenz entwickeln, die das Ganze zu sprengen drohen.
2. Die Bedeutung der christlichen Achse
Für das Bewußtsein des Abendlandes ist Christus die Achse der Geschichte.
Christentum als christliche Kirche ist vielleicht die größte und höchste Organisa-
tionsform menschlichen Geistes, die bisher da war. Aus dem Judentum stammen die
religiösen Antriebe und Voraussetzungen (Jesus ist für den historischen Blick in der
Reihe der jüdischen Propheten der letzte und steht in bewußter Kontinuität zu ihnen),
aus dem Griechentum die philosophische Weite und die Erhellungskraft im Gedanken,
aus dem Römertum die Organisationsenergie und die Weisheit im Realen. Daraus wird
ein Ganzes, das als solches niemand geplant hat, einerseits ein bewunderungswürdi-
ges komplexes Endergebnis in der synkretistischen Welt des römischen Imperiums, an-
dererseits in Bewegung gesetzt durch neue religiöse und philosophische Konzeptionen
(deren bedeutendster Repräsentant Augustin ist). Diese Kirche erwies sich als fähig,
selbst das Widersprechende zusammenzuzwingen, die bis dahin höchsten Ideale in sich
aufzunehmen und das Erworbene in verläßlicher Tradition zu schützen.
Aber historisch ist das Christentum, seinem Gehalt nach und in seiner Wirklich-
keit, ein spätes Ergebnis. Indem dieses für die kommende Zeit als Grund und Ursprung
genommen wurde, hat in der historischen Anschauung für das Abendland eine Ver-
schiebung der Perspektive stattgefunden zugunsten einer spätantiken Erscheinung -
 
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