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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0098
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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analoge Verschiebungen geschahen in Indien und China. Im ganzen Mittelalter gel-
ten Caesar35 und Augustus mehr als Solon und Perikies, Vergil mehr als Homer,
Dionysios Areopagita und Augustin mehr als Heraklit und Plato. Die spätere Rückkehr
zur eigentlichen und ursprünglichen Achse erfolgte nie im Ganzen, sondern nur teil-
weise in den Wiederentdeckungen, so in der Aufnahme von Aristoteles und Plato
schon im Mittelalter, in der Erneuerung der Tiefe der prophetischen Religion durch
protestantische Richtungen, in der Wiedererfahrung des Griechentums durch den
deutschen Humanismus Ende des 18. Jahrhunderts.
Aber nicht nur geistig, sondern auch politisch ist die Weise des abendländischen
Christentums für Europa entscheidend geworden. Das zeigt eine vergleichende Be- 85
trachtung. Die großen dogmatischen Religionen wurden seit dem dritten Jahrhundert
nach Chr. ein einheitsbildender politischer Faktor. Die iranische Religion wurde Trä-
ger des Sassanidenreiches seit 224, die christliche Religion Träger des Römerreiches seit
Konstantin, der Islam Träger des Araberreiches seit dem Siebentenjahrhundert. Ge-
genüber der Welt vergleichsweise freien Verkehrs der Kulturen im Altertum, dieser Welt
der Humanität, brach jetzt der Abgrund auf. Die Kriege wurden zugleich Religions-
kriege, zwischen Byzanz und den Sassaniden, zwischen Byzanz und den Arabern, spä-
ter der westlichen Staaten mit den Arabern, und dann die Kriege der Kreuzzüge. In die-
ser verwandelten Welt war das Christentum in Byzanz nicht viel anders wie die übrigen
dogmatischen Religionen. Es war ein mehr oder weniger theokratischer Staat. Anders
im Abendland. Hier war wohl der Anspruch der Kirche der gleiche. Aber da er nicht er-
füllt wurde, die Kirche kämpfte, entfaltete sie hier nicht nur das geistige Leben, son-
dern wurde ein Faktor der Freiheit gegen weltliche Gewalt. Das Christentum hat hier
dann gerade auch in den Gegnern der Kirche die Freiheit gefördert. Die großen Staats-
männer waren fromm. Die Kraft ihres nicht nur augenblicklich machtpolitischen, son-
dern Lebens- und Staatsform mit Ethos und Religion erfüllenden Willens war eine
Hauptquelle abendländischer Freiheit seit dem Mittelalter.
3. Die Bildungskontinuität des Abendlandes
Die Bildungskontinuität des Abendlandes ist nicht verlorengegangen trotz außeror-
dentlicher Brüche, Zerstörungen, scheinbar völligen Verfalls. Es sind zum mindesten
Auffassungsformen und Schemata, Worte und Formeln, die durch die Jahrtausende
gehen. Und wo die bewußten Rückbezüge aufhören, ist irgendeine faktische Kontinui-
tät geblieben und ist bewußte Wiederanknüpfung erfolgt.
China und Indien lebten stets in Kontinuität mit ihrer eigenen Vergangenheit,
Griechenland dagegen darüber hinaus in Kontinuität mit fremder, orientalischer Ver-
gangenheit, die nordischen Völker in Kontinuität mit der ihnen zunächst fremden
Kultur der Mittelmeerwelt. Das Abendland ist charakterisiert durch die jeweilige Ur-
sprünglichkeit in der Kontinuität mit dem vorhergehenden Fremden, das angeeignet,
verarbeitet, verwandelt wird.
 
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