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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0117
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

17. Jahrhundert von allen anderen Kulturen. Die Einzigkeit der modernen Wissen-
schaft innerhalb der Weltgeschichte möchten wir vergegenwärtigen.
Der Tatbestand der modernen Wissenschaften ist schon an Umfang, Reichtum und
Mannigfaltigkeit des Erkennens ohne Vergleich mit aller früheren Geschichte. Die Ge-
schichte dieser modernen Wissenschaft zeigt ein unerschöpfliches Bild. Die naturwis-
senschaftliche Erkenntnis durch mathematische Theorie, seit Kepler und Galilei, ist
wohl das auffälligste Neue und durch ihre Folgen in der Technik unerhört wirksam. Aber
sie ist nur ein Glied in einem umfassenderen Prozeß des Erkennens. Die Entdeckungs-
fahrten führten zur ersten Erdumseglung und zu der Feststellung, daß bei der Fahrt in
der Richtung nach Westen ein Tag verloren wurde. Das war vor erst 400 Jahren. Nie vor-
her hatte der Mensch um den Erdball gewußt in diesem Sinn der Realität (nicht bloß der
Vermutung). Der erste Globus entstand. Wie in die Weite so ging die Erfahrung auf die
Dinge in der Nähe. Die Anatomie des Menschen (Vesal)4° wurde mit einer früher unbe-
kannten Forscherleidenschaft durch Leichensektionen ans Licht gebracht. Durch das
Mikroskop zeigte sich Leeuwenhoek das Gewimmel im Wassertropfen. Im Fernrohr
sah Galilei Niegesehenes an Planeten und Monden. Ausgrabungen brachten seit dem
18. Jahrhundert vergangene und vergessene historische Wirklichkeit zur Anschauung
(Pompeji), ließen ganze Kulturen wieder entstehen (Ägypten, Babylonien), erfüllten
in Schliemanns Sehnsucht nach der Wirklichkeit des homerischen Zeitalters. Schrift- und
Sprachentzifferungen machten die Menschen hörbar, die vorJahrtausenden lebten. Die
Vorgeschichte wurde durch Funde eine unbezweifelbare Wirklichkeit. Wir wissen heute
mehr von der Geschichte der griechischen Anfänge, des vorderen Orients und Ägyptens
als die Griechen selbst. Die Geschichte hat sich für den Blick um Jahrtausende in die
Vergangenheit erweitert, die Erdgeschichte liegt vor Augen, die Tiefe des Sternenhim-
mels öffnet sich ins Unermeßliche. Die moderne Welt scheint überall Wissenschaften
entstehen zu lassen, unabhängig voneinander, aber aus einem gemeinsamen Geist. In
den Werkstätten der Maler und Architekten erwuchs Naturwissenschaft, der Seefahrt
erwuchs die Geographie, dem Staatsinteresse die Wirtschaftswissenschaft: überall aus
dem Antrieb, Nutzen für praktische Zwecke zu gewinnen, aber dann alsbald aus selb-
ständigem Interesse an der Sache. In der Theologie erwuchs die historische Bibelkritik.
Dies endlos zu erweiternde Bild läßt uns nun fragen: Ist in dieser an Umfang uner-
hört gewachsenen modernen Wissenschaft etwas grundsätzlich Neues und Eigenes zu
charakterisieren?
a. Charakteristik der modernen Wissenschaft
Wissenschaft hat drei unerläßliche Merkmale: Sie ist methodische Erkenntnis, ist
zwingend gewiß und allgemeingiltig.
Wissenschaftlich weiß ich nur, wenn ich zugleich der Methode bewußt bin, durch
die ich dies Wissen habe, es also begründen und in seinen Grenzen zeigen kann.
 
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