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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0128
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte 95
Wille, nicht bloß in der Welt, innerhalb der im Ganzen unübersehbaren menschli-
chen Zustände sich durch Erkenntnis sinnvoll zu helfen, sondern aus der Erkenntnis
des Ganzen (deren Vorhandensein bei den vergötterten Wissenschaftlern vorausge-
setzt wird) die Welt im Ganzen allein aus dem Verstand in Ordnung zu bringen.
Dieser typisch moderne Aberglaube erwartet, was die Wissenschaft nicht leisten
kann. Er nimmt vermeintliche wissenschaftliche Totalanschauungen der Dinge für
endgültige Erkenntnis. Er nimmt Resultate kritiklos an, ohne den Weg zu kennen, auf
dem sie methodisch gewonnen werden, und ohne die Grenzen | zu kennen, innerhalb
derer jeweils die wissenschaftlichen Resultate Geltung haben. Er faßt alle Wahrheit
und alle Wirklichkeit auf als ein für unseren Verstand Verfügbares. Er hat ein absolu-
tes Vertrauen zur Wissenschaft und gehorcht fraglos ihrer Autorität, die durch offizi-
elle Instanzen der Sachverständigen ausgeübt wird.
Wenn nun aber dieser Wissenschaftsaberglaube enttäuscht wurde, so ist im Rück-
schlag eine Verwerfung der Wissenschaft erfolgt und eine Berufung auf Gefühl, In-
stinkt, Triebe. Alles Unheil wird dann der Entwicklung der modernen Wissenschaft
zugeschrieben. Solche Enttäuschung ist unvermeidlich, wenn der Aberglaube Un-
mögliches erwartet hatte. Die richtigen Einrichtungen gelingen nicht, die schönsten
Pläne scheitern, Katastrophen der menschlichen Zustände treten ein, deren Ausmaß
um so unerträglicher empfunden wird, als die Erwartung endgültigen Fortschritts be-
stand. Symbolisch aber für das durch Wissenschaft überhaupt Mögliche bleibt, daß
der Arzt trotz seines heute unerhört gesteigerten Könnens weder alle Krankheiten zu
heilen noch den Tod zu verhindern vermag. Der Mensch stößt immer wieder an seine
Grenzen.
In dieser Situation kommt es darauf an, jene echte Wissenschaft zu eigen zu gewin-
nen, die ebenso klar das Wißbare weiß, wie sie entschieden ihrer Grenzen sich bewußt
ist. Nur so ist den zweifachen Irrungen des Wissenschaftsaberglaubens und des Wis-
senschaftshasses zu entgehen. Was aus dem Menschen wird, das wird entscheidend
dadurch bestimmt, ob es gelingt, die Wissenschaft durch die Zeiten hindurch zu be-
wahren, zu vertiefen, in immer mehr Menschen zur Wirklichkeit zu bringen.
Die Sorge darf nicht leicht genommen werden. Denn die eigentliche, umfassende
Wissenschaft ist gebunden an die geschichtlich bedingte Struktur einer tiefen Seele.
Sie ruht auf einem sehr verletzlichen, keineswegs durch verläßliche Dauer durch Ge-
nerationen garantierten Grunde. Diese Wissenschaft entspringt einer Verwicklung
der Motive, so verschlungen, daß bei Wegfall eines einzigen die Wissenschaft selbst
lahm oder leer wird; die Folge ist, daß in der modernen Welt in allen Jahrhunderten
Wissenschaft als Wirklichkeit wissenschaftlicher Gesamthaltung stets selten war und
vielleicht seltener geworden ist. Der beherr| sehende Lärm der Ergebnisse in der Ge-
staltung der materiellen Welt und in den Wendungen der auf dem ganzen Erdball
geredeten »aufgeklärten« Weltanschauung kann nicht darüber täuschen, daß die
Wissenschaft, dieses scheinbar Geläufigste, das Allerverborgenste ist. Der moderne

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