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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0156
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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a. Charakteristik der gegenwärtigen Lage
1. Die Massen werden zu einem entscheidenden Faktor des Geschehens
Alle frühere Geschichte spielte sich vergleichsweise zu heute in relativ stabilen Zustän-
den ab. Das Bauerntum stellte die Masse der Bevölkerung dar und blieb in der Lebens-
form auch bei katastrophalen politischen Ereignissen sich ziemlich gleich. Es war eine
ungeschichtliche Substanz der Bevölkerung. Die in historischen Zeiten immer wieder-
kehrenden Agrarkrisen brachten wohl Erschütterungen, aber änderten grundsätzlich
nichts. Die Wandlungen sozialer Zustände gingen langsam, betrafen einzelne Schich-
ten und Gruppen innerhalb eines als gleichbleibend empfundenen Gesamtzustands.
Die Menschen blieben, auch wenn sie verhungern mußten, für ihr Bewußtsein ver-
gleichsweise geborgen in unveränderlichen Ordnungen. Man ertrug und fügte sich
und lebte in dem alles durchstrahlenden religiösen Glauben.
Heute ist das ganz anders. Die sozialen Zustände sind in einer unaufhaltsamen Be-
wegung. Diese ist bewußt geworden. Die gesamte Bevölkerung auf der ganzen Erde
wird aus ihren uralten überlieferten Ordnungen und Bewußtseinsformen herausgeris-
sen. Das Bewußtsein der Geborgenheit wird immer geringer. Die Menschenmassen
werden einheitlicher. Alle lernen lesen und schreiben. Ohne das könnten sie nicht
zum Wissen kommen, nicht Sprache gewinnen für ihren Willen und sich nicht zur
Geltung bringen.
Die Massen werden ein entscheidender Faktor. Der Einzelne zwar ist ohnmächti-
ger als je, aber der Einzelne als Glied der Masse,64 das »wir«, scheint einen Willen zu
gewinnen.
Dieser Wille aber kann nicht ursprünglich in einer anonymen Masse erwachsen.
Er wird durch Propaganda erweckt und gelenkt. Die Massen brauchen Vorstellungen
und Schlagworte. Ihnen | muß gesagt werden, was sie wollen. Aber für das ihnen Ge-
sagte muß der Boden in ihnen bereit sein. Der Staatsmann, der Denker, der Künstler,
der Dichter muß sich an Kräfte in den Massen wenden, wenn er wirken wilL Welche
diese sind, ist keineswegs vorherzusagen. Es charakterisiert die führenden Menschen,
an welche Triebe, Wertschätzungen, Leidenschaften sie sich wenden. Auf diese Füh-
renden wirkt zurück, was sie in den Massen erregen. Von daher wird ihnen bestimmt,
wie sie selbst sein müssen und reagierend werden müssen. Sie sind Exponenten eines
Massenwillens, wenn sie nicht Diktatoren über dirigierte Sklavenmassen werden.
Masse' aber ist ein vieldeutiger Begriff. Masse heißt entweder einfach die Menge der
Bevölkerung (und ist als solche jederzeit da), oder die augenblickliche Äußerung und
das Verhalten von Menschen unter Suggestionen in akuten Situationen (und ist als
solche ebenso plötzlich da wie wieder verschwunden), oder die Minderwertigkeit der
Vielen, des Durchschnitts, deren Dasein durch seinen Massendruck alles bestimmt

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Über »Masse«: Le Bon, Psychologie der Massen. - Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen.
 
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