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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0163
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

Sogar den Tatbestand eines Zeitalters im Ganzen gewinnen wir nicht vor Augen, nur
mehr oder weniger wesentliche besondere Phänomene innerhalb dieses Zeitalters. Je
mehr wir erkennen, desto größer wird für unser Bewußtsein das Geheimnis des Ganzen.
Nun geht der Einschnitt des technischen Zeitalters ungewöhnlich tief. Er läßt
nichts im menschlichen Dasein unberührt. Von ihm her gewinnt alles, was nicht
173 durch ihn verursacht ist, doch | seine Modifikation. Aber wir müssen uns hüten, den
verwickelten Gang der menschlichen Dinge auf diesen einen Faktor allein zurückzu-
führen. Längst bevor die Technik diese Wirkungen hatte, waren Bewegungen im
Gange, denen die heutige geistige Situation entspringt. Wie die Technik wirkt und auf-
genommen wird, das liegt an dieser geistigen Welt, an dieser Denkungs- und Lebens-
art, auf die sie trifft.
Wohl brachte das technische Zeitalter die ungeheure Krise. Marx und Engels konn-
ten eine schlechthin erleuchtende Erkenntnis gewinnen, weil sie dies Neue sahen. Aber
dieses Neue war keineswegs ein geistig neues Menschsein. Da lag die große Verwechslung.
Man sprach von neuem menschlichen Bewußtsein, von einem neuen Menschen,
von geistiger Schöpfung, von Wahrheit und Heil, man sah in eine leuchtende Zu-
kunft, - und doch war solches Reden zunächst nur der Vollzug der tabula rasa, war der
zunehmende Bewußtseinsverlust. Was ohne erfüllende Idee war, das wurde als Idee
laut propagiert. Dann wurde nach den großen Irrenden die Welt zum Schauplatz der
kleingeformten Macher, gehorsamen Intriganten, die keinen Unterschied zwischen
wahr und falsch, gut und böse kennen, sondern nur der Funktion der Macht sich fü-
gende Werkzeuge sind.
Oder man sprach von der Glaubenslosigkeit als Folge der Technik. Diese löse alle
Menschen von ihrem Boden, reiße sie aus aller Geborgenheit, stelle sie gleichsam in
einen leeren Raum, nehme ihnen mit der Luft den Atem und die Seele und lasse von
ihnen nur übrig, was brauchbar ist im Maschinenbetrieb.
Was aber im technischen Zeitalter geschah, durch Folgen der Technik gefördert,
das hat noch ganz andere Voraussetzungen. Längst vor der technischen Veränderung
der Welt begannen die geistigen, zu uns führenden Bewegungen. Der große Umbruch
zur Aufklärung am Ende des 17. Jahrhunderts, die französische Revolution, das zwei-
deutige Krisen- und Vollendungsbewußtsein des deutschen philosophischen Idealis-
mus, das sind Schritte zu uns hin, unabhängig von der Technik.
Die Aufklärung: Glaubenslosigkeit gilt als Folge der Aufklärung. Weil die Menschen
zu viel wissen, die gefährlichen Bücher kennen und deren Sprache in der Presse zum
1/4 täglichen | Fluidum haben, darum glauben sie nichts mehr. Die Entdeckung der Welt
der fremden Kulturen und Glaubensüberzeugungen hat durch Vergleich die Skepsis
gegen den eigenen Glauben gebracht. Aber dieser Weg führt nicht notwendig in die
Glaubenslosigkeit. Nur halbe und mißverstehende Aufklärung führt ins Nichts, wäh-
rend die ganze und uneingeschränkte Aufklärung das Geheimnis des Ursprungs erst
recht hörbar macht.
 
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