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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0232
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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keine erdachte Realität als das Ziel festlegen, auf das die Geschichte mit Notwendig-
keit zusteure, das wir selber als solches in unseren Grundwillen aufnehmen und bei
dessen Erreichung die Geschichte vollendet wäre. Niemals werden wir eine Erfüllung
der Geschichte finden außer in jeder Gegenwart als dieser Gegenwärtigkeit selber.
| Die Grenze der geschichtlichen Möglichkeiten hat ihren tiefen Grund im Mensch- 266
sein. Ein vollendeter Endzustand kann in der menschlichen Welt niemals erreicht wer-
den, weil der Mensch ein Wesen ist, das ständig über sich hinausdrängt, nicht nur un-
vollendet, sondern unvollendbar ist. Eine Menschheit, die nur sie selbst sein wollte,
würde in der Beschränkung auf sich das Menschsein verlieren.
In der Geschichte aber dürfen wir Ideen ergreifen und müssen es tun, wenn wir un-
serem Leben in Gemeinschaft einen Sinn abgewinnen wollen. Die Entwürfe ewigen
Friedens oder der Voraussetzungen für einen ewigen Frieden bleiben wahr, auch wenn
sich die Idee als konkretes Ideal nicht verwirklichen läßt, vielmehr über jede reale Ge-
staltung hinaus unendliche Aufgabe bleibt. Eine Idee läßt sich weder mit dem vorweg-
genommenen Bilde einer möglichen Realität noch mit der Realität selber in Deckung
bringen, wenn sie auch der Sinn im Planen ist.
Ihr Grund aber ist ein unbegründbares Vertrauen, nämlich der Glaubensgewißheit,
daß nicht alles nichtig, nicht nur ein sinnfremdes Chaos, ein Verlaufen aus nichts in nichts
ist. Diesem Vertrauen zeigen sich die Ideen, die uns bei unserem Gang durch die Zeit füh-
ren. Für dieses Vertrauen liegt Wahrheit in der Vision des Jesaias, in der die Idee zum sym-
bolischen Bilde wird, dieser Vision der Eintracht aller: »Und sie werden ihre Schwerter zu
Pflugscharen umschmieden, - und ihre Spieße zu Winzermessern. Kein Volk wird gegen
das andere das Schwert erheben, - und sie werden den Krieg nicht mehr lernen.«94
c. Glaube
Einleitung
Die Aufgabe, des technischen Zeitalters Herr zu werden zugunsten eigentlichen
Menschseins, ist in den großen Tendenzen dieses Zeitalters, dem Sozialismus und der
Weltordnung, bewußt geworden.
Aber es reicht nicht aus, ihnen Wissenschaft, Technik und Zivilisation zugrunde
zu legen. Diese sind kein verläßlicher Halt. Sie | stehen im Dienste des Guten ebenso 267
wie des Bösen. Der Mensch selbst muß aus anderem Ursprung leben. Daher ist das Ver-
trauen zur Wissenschaft heute brüchig geworden: der Wissenschaftsaberglaube, die
falsch gewordene Aufklärung, der Verfall der Gehalte zeugen gegen sie.
Auch die überlieferten großen geistigen Mächte tragen nicht mehr das Leben. Es
ist kein volles Vertrauen mehr zum Humanismus: er scheint abseits zu stehen, als ob
er nicht sei.
Zu den Kirchen als solchen ist bei den Massen kein durchschlagendes Vertrauen
mehr möglich; sie waren zu ohnmächtig, als das Böse triumphierte.
 
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