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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0234
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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den ist ein verborgen Gemeinsames. Der Gegner aller, der Gegner, der in jedem Men-
schen bereit sitzt, ist allein der Nihilismus.
Der Nihilismus ist das Versinken in Glaubenslosigkeit. Es kann scheinen, als ob der
Mensch als eine Tierart des Lebendigen in seiner Unmittelbarkeit aus seinen Trieben
leben könnte. Aber er kann es nicht. Er kann, wie Aristoteles sagte,95 nur mehr oder
weniger als ein Tier sein. Verleugnet er das, und möchte er wie die Tiere selbstverständ-
lich als Natur leben, so kann er diesen Weg nur beschreiten in Verbindung mit dem
Bewußtsein des Nihilismus und darum nur mit schlechtem Gewissen oder dem Ah-
nen der Verlorenheit. Im Nihilismus noch zeigt er durch Zynismus und Haß, durch
ein verneinendes Denken und Handeln, durch einen Zustand chronischer Empört-
heit, daß er Mensch und nicht Tier ist.
| Der Mensch ist nicht nur Triebwesen, nicht nur ein Verstandespunkt, sondern ein
Wesen, das gleichsam über sich hinaus ist. Er ist nie erschöpft mit dem, was er als Ge-
genstand von Physiologie, Psychologie und Soziologie wird. Er kann Teil gewinnen an
einem Umgreifenden, durch das er erst eigentlich er selbst wird. Wir nennen es Idee,
sofern der Mensch Geist ist, nennen es Glaube, sofern er Existenz ist.
Der Mensch lebt nicht ohne Glauben. Denn auch der Nihilismus als Gegenpol des
Glaubens ist doch nur in bezug auf möglichen, aber verneinten Glauben.
Was nun heute geschieht in Richtung auf Sozialismus, Planung, Weltordnung, es
wird wirklich und findet seinen Sinn nie allein und entscheidend durch rationale Er-
kenntnis und nicht nur durch die Triebe des Menschen, sondern wesentlich durch die
Weise, wie Menschen glauben und was der Gehalt ihres Glaubens ist - oder wie sie
nihilistisch im Gegenpol zum Glauben stehen.
Es kommt für den Gang der Dinge darauf an, welche sittlichen Maßstäbe wir in un-
serer Praxis tatsächlich anerkennen, aus welchem Ursprung wir leben, was wir lieben.
2. Aspekt der gegenwärtigen Lage
Als Rom die gesamte antike Welt in seinem Reich zusammenfaßte, vollendete es die seit
den Zeiten Alexanders fortschreitende Nivellierung. Die nationale sittliche Bindung
wurde schwach, die lokale geschichtliche Überlieferung trug nicht mehr das stolze Le-
ben eigenständiger Kraft. Die Welt wurde geistig eingeebnet in zwei Sprachen (grie-
chisch und lateinisch), in einer verflachten rationalen Sittlichkeit, die, weil sie ohne
Wirkung in den Massen war, vielmehr Raum gab dem Genuß als solchem und dem
trostlosen Leiden der Sklaven, der Armen, der Unterworfenen. Der Einzelne hatte am
Ende seine Wahrheit im Sichabschließen von der schlechten Welt. Eine Philosophie
persönlicher Unerschütterlichkeit - ob mit dogmatischen Lehren oder mit Skepsis, das
machte nicht viel Unterschied - war die Zuflucht vieler, konnte aber die Massen nicht
durchdringen. Wo nichts mehr eigentlich geglaubt wird, da kommt der absurdeste
Glaube zur Herrschaft. Aberglaube in mannigfachen Gestalten, Heils |lehren wunder-
licher Art, Kreise um Wanderprediger, Therapeuten, Dichter und Propheten, in einem

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