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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0236
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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Die These, die aus Nihilismus dies rechtfertigt, lautet: Der Mensch lebt immer von
Illusionen. Die Geschichte ist der Gang des Wechsels der Illusionen. Dagegen ist zu sa-
gen, daß nicht nur die vielen Illusionen, sondern ebenso der Kampf gegen sie um Wahr-
heit durch die Geschichte gehe. Zu Illusionen neigt zwar besonders der Ohnmächtige,
und heute ist der Einzelne vielleicht ohnmächtiger als je. Aber er kann auch die einzige
Chance der Ohnmacht, das bedingungslose Mühen um Wahrheit, ergreifen.
Der Nihilist erklärt dies wiederum für Illusion. Denn es gäbe keine Wahrheit. Er en-
digt daher mit der These: Man müsse glauben, gleichgiltig was, - die notwendige Illu-
sion werde aus der eigenen Kraft ergriffen, die sagen kann: ich glaube es nicht, aber
man muß es glauben.
Wenn man vom Glauben psychologisch spricht und nicht nach dem Gehalte, nach
der Wahrheit und Objektivität fragt, so handelt es sich hier überall um Analogien re-
ligiösen Glaubens: Anspruch auf ausschließliche Geltung der eigenen Wahrheit, Fa-
natismus, Verständnislosigkeit für alles andere, Absolutheit der Forderungen, Bereit-
schaft zu Opfer und Einsatz des Lebens.
Es erwachsen Bilder, die wie Glaubenssymbole ansprechen können, wenn etwa der
junge Marx in seinen Schriften an einen neuen Menschen denkt, den eigentlichen
Menschen, der noch gar nicht da war, der nun erwachen wird, den Menschen, der
seine Selbstentfremdung aufhebt. Oder wenn heute der neue Mensch der Maschinen-
arbeit, der harte, maskenartig geprägte, im Dienst verläßliche, unpersönlich gewor-
dene Mensch in seiner Souveränität verklärt wird.
Aber psychologische Merkmale können nicht den Charakter eines Glaubens als reli-
giösen Glaubens bestimmen. Vielmehr | charakterisieren diese Merkmale gerade die Er-
satzreligion und die Unphilosophie. Im Medium der Rationalität, in dem Mißbrauch der
Wissenschaft zur Dogmatik in einem Wissenschaftsaberglauben wird ein nachweislich
falscher Gedanke möglicher Weltvollendung, richtiger Welteinrichtung zum Glaubens-
gehalt verkehrt. Aber es sind mächtige, die Welt durchwirkende, den Gang der Dinge in
die Gefahr gesteigerten Ruins treibende Verkehrungen. Es ist damit in der Tat kein neuer
Glaubensgehalt da, vielmehr scheint die Leerheit dieses Glaubens wie ein Korrelat zum
Selbstverlust des Menschen. Es ist charakteristisch, daß Vertreter solchen Glaubens vor
nichts Respekt haben, außer vor Gewalt und Macht. Auf Gründe hören können sie nicht
mehr, ein Wahrheitsursprung geistiger Herkunft hat für sie keine Geltung.
Stellen wir die Frage noch einmal grundsätzlich: Ist Glaube möglich ohne Tran-
szendenz? Bemächtigt sich des Menschen eine rein innerweltliche Zielsetzung, die den
Charakter des Glaubens hat, weil ihr Inhalt zukünftig, also der Gegenwart gleichsam
transzendent ist, im Gegensatz zu dem Leiden, dem Nichtstimmen, der sich widerspre-
chenden Wirklichkeit des Gegenwärtigen steht? - eine Zielvorstellung, die so wie man-
cher religiöse Glaube die Tendenz hat, über die Gegenwart zu täuschen, zu trösten, Er-
satz in einem Nichtseienden, Nichtgegenwärtigen zu finden? - und doch fähig ist,
Aufopferung und Verzicht für dies illusionär Zukünftige mit Erfolg zu fordern?

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