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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0239
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206

Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

Die Folgen des Glaubens (an Gott, an den Menschen, an Möglichkeiten in der Welt)
sind wesentlich für die Wege des Sozialismus und der Welteinheit. Ohne Glauben
bleibt der Verstand, der Mechanismus, das Irrationale und der Ruin.
i) Kraft aus dem Glauben: Nur der Glaube bringt die Kräfte in Bewegung, die der ani-
malischen Grundtriebe des Menschen Herr werden, sie aus der Herrschaft bringen und
zu Motoren des sich aufschwingenden Menschseins verwandeln: die Triebe der bru-
talen Gewalt des Herrschenwollens, - die Lust an der Gewalt, an der Grausamkeit, -
den gehaltlosen Geltungswillen, - die Begier nach Reichtum und Genuß, - die eroti-
schen Triebe, die sich vordrängen, wo ihnen Raum gegeben wird.
Der erste Schritt zur Bändigung der bloßen Triebe ist die äußere Gewalt mit Terror
und Angsterzeugung, dann die schon indirekte Gewalt der Tabu’s; dann findet die an-
eignende Überwindung statt durch Glauben des sich selbst durch den Sinn seines Tuns
aus seinem Glauben beherrschenden Menschen.
Die Geschichte ist der Gang des Menschen zur Freiheit durch die Zucht des Glau-
bens. Aus dem Glauben werden die Gesetze entworfen, die die Gewalt unter sich beu-
gen, wird die Legitimität konstituiert, ohne die auf nichts Verlaß ist, wird der Mensch
er selbst durch Unterwerfung unter unbedingte Forderungen.
276 | 2) Toleranz: Der Weg zur Weltordnung kann nur gelingen, wenn Toleranz herrscht.
Intoleranz bedeutet Gewalt, Abstoßen und Eroberung.
Toleranz aber heißt nicht Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit ist vielmehr geboren
aus dem Hochmut eigener Wahrheit und die mildeste Form der Intoleranz: die verbor-
gene Verachtung, - mögen die Anderen glauben, was sie wollen, es geht mich nicht an.
Toleranz dagegen ist aufgeschlossen, weiß um die eigene Beschränkung, will sie in
der Verschiedenheit menschlich verbinden, ohne die Vorstellungen und Gedanken
des Glaubens auf einen schlechthin allgemeingültigen Nenner zu bringen.
Vielleicht sind in jedem Menschen alle Möglichkeiten, aber gewiß ist immer nur
beschränkte Wirklichkeit. Sie ist beschränkt erstens aus der Endlichkeit des Daseins. -
Zweitens weil im Ursprung der Erscheinung eine Vielfachheit der Geschichtlichkeit
ist, durch die wir nicht nur unterschieden bleiben, sondern zugleich unser Wesen und
unsere Unbedingtheit gewinnen. Der Mensch in seiner Erscheinung soll gar nicht von
einem einzigen Typus sein, aber er soll in der Vielfachheit sich angehen. Denn wir wur-
zeln über unseren geschichtlich besonderen Ursprung hinaus in dem einen Ursprung,
der uns alle umfängt. Von ihm her wird die grenzenlose Kommunikation gefordert,
die in der Welt der Erscheinung der Weg ist, auf dem Wahrheit an den Tag kommt.
Miteinanderreden ist daher nicht nur in Daseinsfragen für unsere politische Ordnung,
sondern in jedem Sinne unseres Seins der unerläßliche Weg. Aber nur aus Glauben hat
solches Miteinanderreden Antrieb und Gehalt: aus dem Glauben an den Menschen und
seine Möglichkeiten, aus dem Glauben an das Eine, das die Verbindung aller führen kann,
aus dem Glauben, daß ich selbst nur werde mit dem Werden des anderen Selbst.
 
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