Metadaten

Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0245
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
212

Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

Also nicht eine neue Offenbarung Gottes in der Ausschließlichkeit einer Verkün-
digung mit Geltung für die gesamte Menschheit erwarten wir. Etwas anderes ist mög-
lich. Vielleicht dürfen wir etwas erwarten, das wie ein Offenbarwerden durch eine
heute glaubwürdige Prophetie (mit diesem Worte sprechen wir ungemäß von einem
Zukünftigen in einer Kategorie der Vergangenheit) und dann in mannigfacher Gestalt
wäre, oder das durch Weise und Gesetzgeber (wieder in Kategorien der Achsenzeit ge-
sprochen) eine Steigerung zu hochgemutem, hingehendem, durchdringend reinem
284 Menschsein ermöglicht. Es ist ein Un|genügen in uns, etwas, das wie Warten ist und
wie Bereitschaft. Die Philosophie ist unvollendet und muß sich dessen bewußt bleiben,
wenn sie nicht falsch werden will. Wir wandern in das Dunkel der Zukunft, in Abwehr
gegen Feinde der Wahrheit, unfähig, das eigene denkende Nichtwissen preiszugeben
im Gehorsam gegen ein auferlegtes Wissen, - vor allem aber bereit, zu hören und zu
sehen, wenn wieder erfüllende Symbole und tiefe Gedanken den Lebensweg erhellen.
Das Philosophieren wird dabei in jedem Falle Wesentliches leisten. Es lohnt uns,
denkend den Absurditäten, Fälschungen, Verkehrungen und dem Ausschließlichkeits-
anspruch geschichtlicher Wahrheit und der blinden Intoleranz zu widerstehen. Und
es führt auf den Weg dorthin, wo die Liebe ihre Tiefe gewinnt in wirklicher Kommu-
nikation. Dann würde in dieser Liebe durch das Gelingen der Kommunikation den
Fernsten aus ihrer geschichtlichen Ursprungsverschiedenheit doch die Wahrheit sich
zeigen, die uns verbindet.
Heute fühlbar sind die Einzelnen. Wer in der ungeschlossenen und unorganisier-
ten und unorganisierbaren Gemeinschaft eigentlicher Menschen leben möchte - in
dem, was früher die unsichtbare Kirche hieß -, der lebt heute faktisch als Einzelner mit
Einzelnen über den Erdball Zerstreuten, in einer Verbundenheit, die jede Katastrophe
überdauert, einer Verläßlichkeit, die in keinem Vertrag und keiner bestimmten Forde-
rung fixiert ist. Er lebt in vollem Ungenügen, aber im gemeinschaftlichen Ungenügen,
sucht mit ihnen hartnäckig in dieser Welt und nicht außer ihr den rechten Weg. Diese
Einzelnen begegnen sich, ermuntern und ermutigen sich. Sie verwerfen die moderne
Verbindung exzentrischer Glaubensinhalte mit der Praxis eines nihilistischen Realis-
mus. Sie wissen, daß es dem Menschen aufgegeben ist, in dieser Welt zu verwirklichen,
was Menschen möglich ist, und daß diese Möglichkeit nicht eine einzige allein ist.
Aber jeder muß wissen, wo er steht und wofür er wirken will. Es ist, als ob ein jeder be-
auftragt sei von der Gottheit, für grenzenlose Offenheit, eigentliche Vernunft, Wahr-
heit und Liebe und Treue zu wirken und zu leben, ohne die Gewaltsamkeit, wie sie Staa-
ten und Kirchen eigen ist, in denen wir leben müssen, und deren Ungenügen wir
Widerpart halten möchten.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften