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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0267
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234

Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

4. Die Einheit in Raum und Zeit
Die Einheit des Menschen erwächst aus der Gemeinsamkeit des Naturbodens (der Ein-
heit des Planeten) und der Gemeinsamkeit der einen Zeit.
Es wächst im Laufe der Geschichte - mit Rückschlägen - der Verkehr. Die Vielheit
des Naturgegebenen, die Mannigfaltigkeit der Völker und Länder besteht lange in be-
ziehungslosem Nebeneinander. Der Weg des Verkehrs verbindet sie, läßt Stämme zu
Völkern und Völker zu Völkerkreisen, Länder zu Kontinenten sich zusammenschlie-
ßen und wieder zerfallen, die Menschen der verschiedenen Völker sich ansichtig wer-
den und wieder vergessen, bis der Augenblick der bewußten und faktischen Beziehung
aller zu allen beginnt und der Verkehr - im realen Vollzug oder im kämpfenden Ab-
bruch - ununterbrochen wird. Die Menschheitsgeschichte als ständiger gegenseitiger
Austausch in der Einheit des Verkehrs beginnt.
Die Menschen hatten längst die Erdoberfläche mit Ausnahme von Polargegenden,
Wüste und Hochgebirge in Besitz genommen, wandernd in vielen Tausenden von Jah-
ren. Die Menschheit war immer beweglich. Erstaunliche Fahrten sind an der Schwelle
der Geschichte gemacht worden. Die Normannen kamen nach Grönland und Ame-
rika, die Polynesier über den ganzen Stillen Ozean, die Malayen bis Madagaskar. Die
Sprachen sowohl Negerafrikas wie Amerikas sind je unter sich so nah verwandt, daß
sie auf ständigen Verkehr innerhalb dieser Kontinente deuten. Die Erfindungen, Werk-
zeuge, Vorstellungen, Märchen haben in urgeschichtlichen Zeiten ihre weiten Wan-
derungen gemacht, indem sie immer im nahen, wie von der einen Hand in die andere,
314 weitergegeben wurden. Seit langen Zeiten isoliert war | nur Australien und vielleicht
Amerika, aber auch diese nicht absolut (Parallelen zwischen Ostasien und Mexiko sind
verblüffend). Isolierung heißt nicht, daß nie ein anderer Mensch dahin verschlagen
wurde, sondern heißt, daß eine fühlbare Wirkung des Fremden nicht geschah.
Im Laufe der Geschichte bildeten sich große Imperien, die für eine Weile die Be-
rührung der Menschen innerhalb ihrer Reiche steigerten. Dann zerfielen sie wieder,
die Straßen des Verkehrs wurden unterbrochen, die Beziehungen abgerissen, das Wis-
sen von der Existenz der anderen vergessen. Es gab Völker, die sich zeitweise gegen au-
ßen abschlossen, wie Ägypten, Japan, China, aber jede Aufrichtung einer Mauer wurde
schließlich wieder durchbrochen.
Seit fünfhundert Jahren haben die Europäer die gesamte Erde in ihr Verkehrsnetz ge-
zogen. Sie brachten ihre Zivilisation überall hin und nahmen sich Güter der Zivilisation,
die sie nicht besaßen. Sie brachten ihre Haustiere, Nutzpflanzen, Waffen, ihre Produkte
und Maschinen, ihre Sitten und ihren Glauben und alles Unheil ihrer Welt, sie holten
sich die Kartoffel, den Mais, das Chinin, Kakao, Tabak, die Hängematte usw. Sie zuerst
machten die Erdeinheit bewußt, den Verkehr planmäßig, dauernd und zuverlässig.
Dieser Verkehr bedeutet ein ständiges Zusammenwachsen der Menschen, ein Her-
vorbringen der Einheit im Einswerden des Planeten für das Bewußtsein und schließ-
lich für das Handeln der Menschen.
 
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