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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0061
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38 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

gilt in der ethischen und in der christlichen Überlieferung die chronisch gewor-
dene, unmoralische Verkehrung der Willens- und Strebensrichtung. Offen
bleibt an dieser Stelle, ob mit „Laster" das gemeinhin darunter Subsumierte —
beispielsweise die Sieben Todsünden der mittelalterlichen Theologie —
gemeint ist oder das von N. in GWC und in EH Warum ich so gute Bücher
schreibe 5, KSA 6, 307, 7-9 darunter Gefasste: „mit dem Wort Laster bekämpfe
ich jede Art Widernatur oder wenn man schöne Worte liebt, Idealismus". Bei
der Schädlichkeit, die hier zum ersten Mal ins Spiel kommt, müsste eigentlich
ergänzt werden, für wen oder was das Schädliche denn überhaupt schädlich
sei. Wer hier Schaden leidet, wird aber explizit nicht gesagt, so dass man
sowohl die „Wir" als auch die „Missrathnen und Schwachen" als potentiell
Geschädigte an die Leerstelle setzen kann. Die einen hindert „das Mitleiden
der That" daran, richtig und stark zu leben, die andern daran, umgehend zu
sterben. Somit schadet es in der Logik der Starken allen. Das Christentum, so
muss man aus der Apposition folgern, ist ein solch ansteckendes „Mitleiden
der That". Die Frage des Mitleidens wird in AC 7, KSA 6, 172-174 näher erörtert.

3
Vgl. NL 1888, KSA 13, 14[133], 315-317 (KGW IX 8, W II 5, 82-83) und NK KSA 6,
120, 19-121, 10. In AC 3 nimmt N. eine Frage auf, der er etwa in Henri Jolys
Psychologie des grands hommes begegnet war. Joly macht in Abwandlung von
Hippolyte Taine (vgl. NK KSA 6, 145, 25-28) Familie, Rasse und Milieu für das
Werden großer Individuen verantwortlich; auch er meint, die Kultur („civilisa-
tion") eines Volkes ließe sich daran messen, wie sehr es die Profilierung von
Ausnahmemenschen gestatte und ermögliche (Joly 1883, 19). Im Unterschied
zu AC 3 betrachtet Joly aber gesellschaftliche Liberalität und Toleranz für
genieträchtig (ebd., 34). Die genau entgegengesetzte These wird dann in AC 56
und 57 vertreten.
170, 18-22 Nicht, was die Menschheit ablösen soll in der Reihenfolge der
Wesen, ist das Problem, das ich hiermit stelle ( — der Mensch ist ein Ende —
): sondern welchen Typus Mensch man züchten soll, wollen soll, als den
höherwerthigeren, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren.] Die hier artikulierte
Überzeugung schließt an Galton 1883 an, der sich eine biologisch-„eugenische"
Verbesserung der Menschheit durch gezielte Steuerung insbesondere der Fort-
pflanzung erhoffte (siehe auch Ottmann 1999, 262 f.). In N.s Spätwerk hat der
Züchtungsgedanke ebenfalls eine biologistische Schlagseite (vgl. z. B. GD Die
„Verbesserer" der Menschheit, KSA 6, 98-102), auch wenn sein Gebrauch von
Vokabeln aus dem Feld der Züchtung häufig eher in den Bereich von Bildung
 
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