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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0072
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Stellenkommentar AC 6, KSA 6, S. 172 49

einer Willensentscheidung —, oder wenn einem Individuum dies widerfährt,
das den Instinktverzicht womöglich gewollt hat? Der in AC ergehende Aufruf
zur Umkehr scheint zunächst nur sinnvoll, wenn wenigstens die angesproche-
nen „Wenigsten" nicht völlig der gattungsimmanenten Degenerationslogik
unterworfen und nicht nur umkehrwillig, sondern auch umkehrfähig sind.
Allerdings hat N. die damit involvierte Frage nach der Willensfreiheit auch
schon früher unterlaufen (vgl. bes. GD Die vier grossen Irrthümer 7, KSA 6,
95 f.). Nimmt man beispielsweise JGB 19, KSA 5, 31-34 als Deutungsfolie von
AC 6, wäre es gar nicht ausgemacht, dass N. in AC die Absicht verfolgte, freie,
aber in ihrer Freiheit bedrohte Individuen zu neuen Wertschöpfungen zu ani-
mieren. Vielleicht ist das Werk AC ja auch nichts weiter als eine Determinante,
das Individuen in eine bestimmte Richtung treiben soll, ohne dass diese Indivi-
duen dafür der Willensfreiheit bedürften.
172, 17-20 Eine Geschichte der „höheren Gefühle", der „Ideale der Mensch-
heit" — und es ist möglich, dass ich sie erzählen muss — wäre beinahe auch die
Erklärung dafür, weshalb der Mensch so verdorben ist.] Im Falle von Idealen
und „höheren Gefühlen" wird keine argumentative Herleitung oder Widerle-
gung angestrebt, sondern die Erzählung ihrer „Geschichte" als Geschichte der
decadence erscheint als angemessene Herangehensweise, um von diesen
„Gefühlen" und „Idealen" ein Verständnis zu entwickeln („Erklärung") und sie
zugleich zu unterminieren. Dieses Verfahren ist ein Beispiel für N.s historisch-
genealogischen Denkstil. AC als Werk insgesamt zeichnet über weite Strecken
die „Geschichte der ,höheren Gefühle"' nach und folgt damit dem Anspruch,
das gegenwärtige menschliche Befinden nicht nur („beinahe") erklärt, sondern
auch widerlegt zu haben — soweit sich ein Befinden widerlegen lässt. AC deu-
tet diese Geschichte als Entfremdung von den ursprünglichen Instinkten und
damit als fortschreitende Degeneration. Das Ursprüngliche muss normative
Geltung haben, damit eine solche Geschichtserzählung ihren Zweck erfüllt. Die
Verfallsgeschichte, die N. von der Geschichte des Juden- und Christentums im
Folgenden entwirft, veranschaulicht diesen narrativen Zwang. Verfallsge-
schichte wird damit zum Gegenmodell des Fortschrittsdenkens, dessen Kritik
AC 4 artikuliert hat.
In N.s Spätwerk sind Ausdrücke aus dem Wortfeld des Erzählens ziemlich
häufig. „Spätestens vom Antichrist an kehrt das Wort geradezu leitmotivisch
wieder, auf der Seite der angegriffenen Instanzen von Christentum und Kirche
wie zur Bestimmung der eigenen Gegenentwürfe." (Detering 2010, 18).
172, 19 f. wäre beinahe auch die Erklärung dafür, weshalb der Mensch so
verdorben ist] Das ließe sich so lesen, als ob die „Ideale" und „höheren
Gefühle" nicht bloß ein Produkt der Instinktabirrung wären, sondern dass sie
 
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