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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0127
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104 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

184,3-22 Wenn die Voraussetzungen des aufsteigenden Lebens, wenn alles
Starke, Tapfere, Herrische, Stolze aus dem Gottesbegriffe eliminirt werden, wenn
er Schritt für Schritt zum Symbol eines Stabs für Müde, eines Rettungsankers für
alle Ertrinkenden heruntersinkt, wenn er Arme-Leute-Gott, Sünder-Gott, Kranken-
Gott par excellence wird, und das Prädikat „Heiland", „Erlöser" gleichsam
übrig bleibt als göttliches Prädikat überhaupt: wovon redet eine solche Ver-
wandlung? eine solche Reduktion des Göttlichen? — Freilich: „das Reich Got-
tes" ist damit grösser geworden. Ehemals hatte er nur sein Volk, sein „auserwähl-
tes" Volk. Inzwischen gieng er, ganz wie sein Volk selber, in die Fremde, auf
Wanderschaft, er sass seitdem nirgendswo mehr still: bis er endlich überall hei-
misch wurde, der grosse Cosmopolit, — bis er „die grosse Zahl" und die halbe
Erde auf seine Seite bekam. Aber der Gott der „grossen Zahl", der Demokrat
unter den Göttern, wurde trotzdem kein stolzer Heidengott: er blieb Jude, er blieb
der Gott der Winkel, der Gott aller dunklen Ecken und Stellen, aller ungesunden
Quartiere der ganzen Welt!... Sein Weltreich ist nach wie vor ein Unterwelts-
Reich, ein Hospital, ein Souterrain-Reich, ein Ghetto-Reich...] Biser 1982, 31f.
vergleicht damit die folgende Passage in Heines Zur Geschichte der Religion
und Philosophie in Deutschland: „Wir sahen ihn [sc. den alten Gott] auswan-
dern nach Rom, der Hauptstadt, wo er aller Nationalvorurtheile entsagte, und
die himmlische Gleichheit aller Völker proklamierte, und mit solchen schönen
Phrasen gegen den alten Jupiter Opposizion bildete, und so lange intriguierte
bis er zur Herrschaft gelangte, und vom Capitole herab die Stadt und die Welt,
urbem et orbem, regierte — /178/ Wir sahen, wie er sich noch mehr vergeistigte,
wie er sanftselig wimmerte, wie er ein liebevoller Vater wurde, ein allgemeiner
Menschenfreund, ein Weltbeglücker, ein Philanthrop — es konnte ihm Alles
Nichts helfen. — / Hört Ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder — Man bringt
die Sakramente einem sterbenden Gotte." (Heine 1861a, 177 f.).
184, 7 f. Arme-Leute-Gott, Sünder-Gott, Kranken-Gott par excellence] Schon der
heidnische Christentumsgegner Kelsos hatte die prekäre Nähe von Kranken
und Wahnsinnigen zum christlichen Gott kritisiert (Origenes: Contra Celsum
IV, 18), vgl. zu N.s möglicher Kelsos-Lektüre Sommer 2000a, 186, Fn. 55.
184, 22 ein Hospital] Vgl. NK KSA 6, 137, 18-20, Wahrig-Schmidt 1988, 435-
437, Wahrig-Schmidt 1992 und Sommer 2000a, 194 f. Schon Seneca (Epistulae
morales ad Lucilium 27 und 68) beschreibt die Welt als Krankenhaus; die Vor-
stellung könnte N. nicht nur bei Goethe und in der Romantik begegnet sein,
sondern etwa auch bei Bauer 1877, 36.
184, 22 Souterrain-Reich] Es liegt nahe, bei der Wendung „Souterrain-Reich",
in dem der christliche Gott herrsche, an Dostojewskij und seinen unter dem
französischen Titel L'esprit souterrain erschienenen Erzählband zu denken
 
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