Stellenkommentar AC 61, KSA 6, S. 251 303
die realen Chancen Cesare Borgias, sich gegebenenfalls auf dem Apostolischen
Stuhl zu behaupten, als gering ein. Die Paradoxie dieses „Schauspiels" ist ihm
ebenso bewusst wie N.; bloß gibt es bei Burckhardt keine „olympischen Göt-
ter", die über Grausamkeit und Leid in „unsterbliches Gelächter" ausbrechen.
Hingegen stilisiert AC 61 die Szene von Cesare Borgias Trachten nach der
päpstlichen Schlüsselgewalt zu einem welthistorischen Schlüsselereignis. Der
Abschnitt setzt Kenntnis der Person und des Tuns von Cesare Borgia voraus:
Die idealen Leserinnen und Leser sollten Machiavelli und Burckhardt bereits
gelesen haben, so dass nur noch ihr Urteil über das Ungeheuer Cesare Borgia
umgepolt werden muss, indem dieser in der Auseinandersetzung von Christen-
tum und Antichristentum eine Schlüsselstellung erhält, und diese Schlüssel-
stellung ästhetisch überhöht wird. Neben Burckhardt haben Le journal des
medecins de Lucrece Borgia, Duchesse de Ferrare von A. Gagniere in der Nou-
velle Revue von 1888 (vgl. NK 224, 1-7), Gebhart 1879 sowie Gebhart 1887 bei
der Modellierung von N.s Borgia-Bild eine Rolle gespielt, vielleicht auch Saint-
Victor 1867, 149-169, der besonders die Grausamkeit und Gesundheit Cesare
Borgias in den buntesten Farben ausmalt. „Les Borgia ont peut-etre donne les
spectacles /277/ les plus extraordinaires de la Renaissance. Rome contemplait
avec stupeur ce pape [sc. Alexander VI.] en qui revivaient les traditions effray-
antes des empereurs; mais elle jouissait avec lui des ceremonies paiennes de
sa cour, de ses combats de taureaux, de ses cavalcades pontificales." (Gebhart
1879, 276 f. „Die Borgias haben vielleicht die außerordentlichsten Schauspiele /
277/ der Renaissance gegeben. Rom bewunderte mit Bestürzung diesen Papst
[sc. Alexander VL], in welchem die beängstigenden Traditionen der Kaiser wie-
der auflebten; aber es genoss mit ihm die heidnischen Zeremonien an seinem
Hof, die Stierkämpfe, die päpstlichen Reiterzüge." Vgl. auch Pelletan 1883, 61-
70 zum Ursprung der modernen staatlichen Macht des Papstums bei Alexander
VI. und Cesare Borgia.) Im Anschluss an Burckhardt reflektiert Gebhart 1887,
35 f. u. 65 f. über Cesare Borgias Griff nach der Tiara (N. hat sich einige dieser
Stellen markiert, vgl. zu N.s Gebhart-Lektüre Campioni 2009a, 224-233). Flotte
1868, 66 f. hatte übrigens schon eine Falschmeldung in Le monde kritisch auf-
gespießt, die Cesare Borgia als Papst hatte erscheinen lassen.
251, 12-26 Was geschah? Ein deutscher Mönch, Luther, kam nach Rom. Dieser
Mönch, mit allen rachsüchtigen Instinkten eines verunglückten Priesters im
Leibe, empörte sich in Rom gegen die Renaissance... Statt mit tiefster Dankbar-
keit das Ungeheure zu verstehn, das geschehn war, die Überwindung des Chris-
tenthums an seinem Sitz —, verstand sein Hass aus diesem Schauspiel nur seine
Nahrung zu ziehn. Ein religiöser Mensch denkt nur an sich. — Luther sah die
Verderbniss des Papstthums, während gerade das Gegentheil mit Händen zu
greifen war: die alte Verderbniss, das peccatum originale, das Christenthum sass
die realen Chancen Cesare Borgias, sich gegebenenfalls auf dem Apostolischen
Stuhl zu behaupten, als gering ein. Die Paradoxie dieses „Schauspiels" ist ihm
ebenso bewusst wie N.; bloß gibt es bei Burckhardt keine „olympischen Göt-
ter", die über Grausamkeit und Leid in „unsterbliches Gelächter" ausbrechen.
Hingegen stilisiert AC 61 die Szene von Cesare Borgias Trachten nach der
päpstlichen Schlüsselgewalt zu einem welthistorischen Schlüsselereignis. Der
Abschnitt setzt Kenntnis der Person und des Tuns von Cesare Borgia voraus:
Die idealen Leserinnen und Leser sollten Machiavelli und Burckhardt bereits
gelesen haben, so dass nur noch ihr Urteil über das Ungeheuer Cesare Borgia
umgepolt werden muss, indem dieser in der Auseinandersetzung von Christen-
tum und Antichristentum eine Schlüsselstellung erhält, und diese Schlüssel-
stellung ästhetisch überhöht wird. Neben Burckhardt haben Le journal des
medecins de Lucrece Borgia, Duchesse de Ferrare von A. Gagniere in der Nou-
velle Revue von 1888 (vgl. NK 224, 1-7), Gebhart 1879 sowie Gebhart 1887 bei
der Modellierung von N.s Borgia-Bild eine Rolle gespielt, vielleicht auch Saint-
Victor 1867, 149-169, der besonders die Grausamkeit und Gesundheit Cesare
Borgias in den buntesten Farben ausmalt. „Les Borgia ont peut-etre donne les
spectacles /277/ les plus extraordinaires de la Renaissance. Rome contemplait
avec stupeur ce pape [sc. Alexander VI.] en qui revivaient les traditions effray-
antes des empereurs; mais elle jouissait avec lui des ceremonies paiennes de
sa cour, de ses combats de taureaux, de ses cavalcades pontificales." (Gebhart
1879, 276 f. „Die Borgias haben vielleicht die außerordentlichsten Schauspiele /
277/ der Renaissance gegeben. Rom bewunderte mit Bestürzung diesen Papst
[sc. Alexander VL], in welchem die beängstigenden Traditionen der Kaiser wie-
der auflebten; aber es genoss mit ihm die heidnischen Zeremonien an seinem
Hof, die Stierkämpfe, die päpstlichen Reiterzüge." Vgl. auch Pelletan 1883, 61-
70 zum Ursprung der modernen staatlichen Macht des Papstums bei Alexander
VI. und Cesare Borgia.) Im Anschluss an Burckhardt reflektiert Gebhart 1887,
35 f. u. 65 f. über Cesare Borgias Griff nach der Tiara (N. hat sich einige dieser
Stellen markiert, vgl. zu N.s Gebhart-Lektüre Campioni 2009a, 224-233). Flotte
1868, 66 f. hatte übrigens schon eine Falschmeldung in Le monde kritisch auf-
gespießt, die Cesare Borgia als Papst hatte erscheinen lassen.
251, 12-26 Was geschah? Ein deutscher Mönch, Luther, kam nach Rom. Dieser
Mönch, mit allen rachsüchtigen Instinkten eines verunglückten Priesters im
Leibe, empörte sich in Rom gegen die Renaissance... Statt mit tiefster Dankbar-
keit das Ungeheure zu verstehn, das geschehn war, die Überwindung des Chris-
tenthums an seinem Sitz —, verstand sein Hass aus diesem Schauspiel nur seine
Nahrung zu ziehn. Ein religiöser Mensch denkt nur an sich. — Luther sah die
Verderbniss des Papstthums, während gerade das Gegentheil mit Händen zu
greifen war: die alte Verderbniss, das peccatum originale, das Christenthum sass