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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0435
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412 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

Mischung von Vulgär- und ,Bildungs'-Latein, diese unbändige gute Laune, die
über alle Animalitäten der antiken ,Seele' mit Grazie und Bosheit hinweg-
springt — ich wüsste kein Buch zu nennen, das einen gleich befreienden Ein-
druck auf mich machte: es wirkt dionysisch. In Fällen, wo ich nöthig habe,
mich rasch von einem widrigen Eindruck zu erholen — ich setze den Fall, dass
ich zum Zweck meiner Kritik des Christenthums zu lange die Sumpfluft des
Apostels Paulus zu athmen hatte — genügen mir, als heroisches Mittel, ein
paar Seiten Petronius: sofort bin ich wieder gesund." (KSA 14, 476 f.)
Zu Petronius als Gegengift zum Neuen Testament siehe NK KSA 6, 224, 1-
7. Brobjer 2008b, 7 bemerkt, dass die Angaben über den Schwerpunkt von N.s
Lektüren in EH Warum ich so klug bin 3 und 4 nicht verlässlich seien, da fast
nur Belletristik genannt werde und im Unterschied zur früheren Fassung auch
die Antike ausgeblendet bleibe. Die Ausklammerung aller wissenschaftlichen
und philosophischen Literatur, die N. intensiv studiert hat, soll augenschein-
lich das Eingangsvotum 284, 7 unterstützen, dass nämlich die Lektüren nur
zur Erholung dienen. Auch unter den Literaten werden solche ausgespart, die
N. nachweislich besonders beeinflusst haben — aus der Spätzeit namentlich
Dostojewskij. Die Auflistung soll die Oberflächlichkeit und geistige Folgenlosig-
keit der Lektüren dokumentieren und der (wirklichkeitswidrigen) Stilisierung
des sprechenden Subjekts zu einem in allen wesentlichen Belangen allein aus
sich schöpfenden Individuum Vorschub leisten.
In der letzten Fassung ist die Liste, die in der früheren Form noch weltlite-
rarisch breit war, französisch verengt — sogar unter Anführung von Autoren,
von deren Lektüre sich bei N. sonst keinerlei Spuren finden. Die Absicht
scheint nunmehr zu sein, sich der französischen Kultur anzuverwandeln und
die entsprechenden Übersetzungspläne der Werke des Jahres 1888 ins Franzö-
sische zu befördern (dazu Large 2009a). N. dürfte es mit den in 285, 24-28
genannten Autoren geradezu darauf angelegt haben, seine Beschlagenheit im
allerneuesten französischen Feuilleton, damit seine allerdings ganz und gar
außerdeutsche Zeitgemäßheit unter Beweis zu stellen. So unterschiedliche
Autoren wie Paul Bourget, Pierre Loti, Gyp, Meilhac, Anatole France, Jules
Lemaitre und Guy de Maupassant allesamt als „delikate Psychologen" (285, 22)
zu vereinnahmen, ist zumindest gewagt, wenn nicht abwegig.
285, 8-11 Die wenigen Fälle hoher Bildung, die ich in Deutschland vorfand,
waren alle französischer Herkunft, vor Allem Frau Cosima Wagner, bei weitem
die erste Stimme in Fragen des Geschmacks, die ich gehört habe...] Cosima Wag-
ner, zu der N. während seiner Jüngerbeziehung zu ihrem zweiten Ehemann
Richard Wagner eine intensive Freundschaft unterhielt, war eine der prägen-
den Frauengestalten in N.s Leben. Obwohl sie sich im Herbst 1876 in Sorrent
zum letzten Mal sahen und ihre Freundschaft wegen N.s Bruch mit Wagner
 
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