414 Ecce homo. Wie man wird, was man ist
Shakespeare mit den französischen Klassikern kontrastierte auch Ferdi-
nand Brunetiere in seinen Etudes critiques sur l'histoire de la litterature fran-
gaise, und zwar in der Absicht, die zeitgenössischen Romantiker zu blamieren:
„Mais la verite, c'est que si les romantiques ont compris que le temps etait
passe de la tragedie de Corneille et de Racine, ils n'ont pas compris que le
temps etait encore plus passe, si je puis dire, du drame de Shakspeare et de
Lope de Vega." (Brunetiere 1887, 322; von N. am Rand markiert, Kursiviertes
von ihm unterstrichen. „Aber die Wahrheit ist, dass die Romantiker, wenn sie
auch verstanden haben, dass die Zeit der Tragödie von Corneille und Racine
vorbei war, sie nicht bemerkt haben, dass die Zeit des Dramas von Shakespeare
und Lope de Vegas noch viel mehr vorbei war, wenn ich dies so sagen darf.")
„Les Anglais ont choisi la liberte: les Frangais ont mieux aime la regle. La
liberte est bonne, mais la regle aussi." (Ebd., 323; von N. am Rand mit „NB"
markiert, Kursiviertes von ihm unterstrichen. „Die Engländer haben die Frei-
heit gewählt: die Franzosen haben die Regel vorgezogen. Die Freiheit ist gut,
aber die Regel ist es auch.") Zur Shakespeare-Rezeption in Frankreich vor dem
Horizont von Moliere, Corneille und Racine konnte sich N. bei Stendhal 1854a,
Albert 1882, 1, 287-295 sowie in einem Artikel mit dem Titel „Hamlet ä la
Comedie-Frangaise" bei France 1888, 1-8 kundig machen.
Inwiefern N. die Dramatiker des siede classique tatsächlich intensiv gele-
sen oder auf der Bühne aufgeführt gesehen hat, steht dahin: Er assoziierte
diese Autoren mit der Vornehmheit, die sich für ihn im Zeitalter von Louis
XIV verkörperte. Von den vier Corneille-Bänden in N.s Bibliothek sind drei
unaufgeschnitten; keiner weist Lesespuren auf (NPB 172 f.). Von den immerhin
sieben Racine-Titeln ist nur einer unaufgeschnitten — und zwei, nämlich Atha-
lie und Esther, weisen Markierungen auf, von denen allerdings fraglich ist, ob
sie von N. stammen (NPB 487 f.). Schließlich sind von Moliere unter N.s
Büchern sechs nicht immer aufgeschnittene Werke überliefert, von denen nur
Le bourgeois gentilhomme Lesespuren aufweist, deren Urheber wiederum frag-
lich ist. Die in den Schriften N.s verstreuten Äußerungen über die drei Klassiker
halten sich sehr im Allgemeinen und stellen sie, oft aus der Sekundärliteratur
geschöpft, vornehmlich als Repräsentanten ihrer Epoche dar.
285, 24 f. Paul Bourget] N. las neben dem Roman Andre Cornelis (1887) vor
allem Paul Bourgets Essais de psychologie contemporaine (1883) sowie die in
seiner Bibliothek erhaltenen, mit sehr vielen Lesespuren versehenen Nouveaux
essais de psychologie contemporaine (1886). Für N.s Verständnis der damaligen
französischen Gegenwartsliteratur, insbesondere der decadence-Bewegung ist
Bourget ein zentraler Gewährsmann. Von Bourgets Roman Crime d'amour
(1886) hatte N. zumindest aus den Feuilletons Kenntnis, vgl. NK KSA 6, 172,
28 f.
Shakespeare mit den französischen Klassikern kontrastierte auch Ferdi-
nand Brunetiere in seinen Etudes critiques sur l'histoire de la litterature fran-
gaise, und zwar in der Absicht, die zeitgenössischen Romantiker zu blamieren:
„Mais la verite, c'est que si les romantiques ont compris que le temps etait
passe de la tragedie de Corneille et de Racine, ils n'ont pas compris que le
temps etait encore plus passe, si je puis dire, du drame de Shakspeare et de
Lope de Vega." (Brunetiere 1887, 322; von N. am Rand markiert, Kursiviertes
von ihm unterstrichen. „Aber die Wahrheit ist, dass die Romantiker, wenn sie
auch verstanden haben, dass die Zeit der Tragödie von Corneille und Racine
vorbei war, sie nicht bemerkt haben, dass die Zeit des Dramas von Shakespeare
und Lope de Vegas noch viel mehr vorbei war, wenn ich dies so sagen darf.")
„Les Anglais ont choisi la liberte: les Frangais ont mieux aime la regle. La
liberte est bonne, mais la regle aussi." (Ebd., 323; von N. am Rand mit „NB"
markiert, Kursiviertes von ihm unterstrichen. „Die Engländer haben die Frei-
heit gewählt: die Franzosen haben die Regel vorgezogen. Die Freiheit ist gut,
aber die Regel ist es auch.") Zur Shakespeare-Rezeption in Frankreich vor dem
Horizont von Moliere, Corneille und Racine konnte sich N. bei Stendhal 1854a,
Albert 1882, 1, 287-295 sowie in einem Artikel mit dem Titel „Hamlet ä la
Comedie-Frangaise" bei France 1888, 1-8 kundig machen.
Inwiefern N. die Dramatiker des siede classique tatsächlich intensiv gele-
sen oder auf der Bühne aufgeführt gesehen hat, steht dahin: Er assoziierte
diese Autoren mit der Vornehmheit, die sich für ihn im Zeitalter von Louis
XIV verkörperte. Von den vier Corneille-Bänden in N.s Bibliothek sind drei
unaufgeschnitten; keiner weist Lesespuren auf (NPB 172 f.). Von den immerhin
sieben Racine-Titeln ist nur einer unaufgeschnitten — und zwei, nämlich Atha-
lie und Esther, weisen Markierungen auf, von denen allerdings fraglich ist, ob
sie von N. stammen (NPB 487 f.). Schließlich sind von Moliere unter N.s
Büchern sechs nicht immer aufgeschnittene Werke überliefert, von denen nur
Le bourgeois gentilhomme Lesespuren aufweist, deren Urheber wiederum frag-
lich ist. Die in den Schriften N.s verstreuten Äußerungen über die drei Klassiker
halten sich sehr im Allgemeinen und stellen sie, oft aus der Sekundärliteratur
geschöpft, vornehmlich als Repräsentanten ihrer Epoche dar.
285, 24 f. Paul Bourget] N. las neben dem Roman Andre Cornelis (1887) vor
allem Paul Bourgets Essais de psychologie contemporaine (1883) sowie die in
seiner Bibliothek erhaltenen, mit sehr vielen Lesespuren versehenen Nouveaux
essais de psychologie contemporaine (1886). Für N.s Verständnis der damaligen
französischen Gegenwartsliteratur, insbesondere der decadence-Bewegung ist
Bourget ein zentraler Gewährsmann. Von Bourgets Roman Crime d'amour
(1886) hatte N. zumindest aus den Feuilletons Kenntnis, vgl. NK KSA 6, 172,
28 f.