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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0445
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422 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

bis zur gewöhnlichen Rechtschreibung ununterbrochen Hohn sprechen? Abge-
sehen vom psychologischen Interesse — denn in Ihrem musikalischen Fieber-
produkte ist ein ungewöhnlicher, bei aller Verirrung distinguirter Geist zu spü-
ren — hat Ihre Meditation vom musikalischen Standpunkte aus nur den Werth
eines Verbrechens in der moralischen Welt. [...] Sollten Sie, hochverehrter Herr
Professor, Ihre Aberration ins Componirgebiet wirklich ernst gemeint haben —
woran ich noch immer zweifeln muss —, so componiren Sie doch wenigstens
nur Vokalmusik und lassen Sie das Wort in dem Nachen, der Sie auf dem
wilden Tonmeere herumtreibt, das Steuer führen. / Nochmals — nichts für
ungut — Sie haben übrigens selbst Ihre Musik als ,entsetzlich' bezeichnet —
sie ists in der That, entsetzlicher als Sie vermeinen; zwar nicht gemeinschäd-
lich, aber schlimmer als das: schädlich für Sie selbst, der Sie sogar etwaigen
Überfluss an Muße nicht schlechter todtschlagen können, als in ähnlicher
Weise Euterpe zu nothzüchtigen." (KGB II 4, Nr. 347, S. 52 f.) Dieses vernich-
tende Wort Bülows über N.s Vergewaltigung der Muse der Musik wird in EH
nun zu einem Lob umgemünzt. Vgl. auch Stingelin 2002, 92.
287, 1-26 Wenn ich meine höchste Formel für Shakespeare suche, so finde
ich immer nur die, dass er den Typus Cäsar concipirt hat. Dergleichen erräth
man nicht, — man ist es oder man ist es nicht. Der grosse Dichter schöpft nur
aus seiner Realität — bis zu dem Grade, dass er hinterdrein sein Werk nicht
mehr aushält... Wenn ich einen Blick in meinen Zarathustra geworfen habe, gehe
ich eine halbe Stunde im Zimmer auf und ab, unfähig, über einen unerträglichen
Krampf von Schluchzen Herr zu werden. — Ich kenne keine herzzerreissendere
Lektüre als Shakespeare: was muss ein Mensch gelitten haben, um dergestalt es
nöthig zu haben, Hanswurst zu sein! — Versteht man den Hamlet? Nicht der
Zweifel, die Gewissheit ist das, was wahnsinnig macht... Aber dazu muss man
tief, Abgrund, Philosoph sein, um so zu fühlen... Wir fürchten uns Alle vor der
Wahrheit... Und, dass ich es bekenne: ich bin dessen instinktiv sicher und gewiss,
dass Lord Bacon der Urheber, der Selbstthierquäler dieser unheimlichsten Art
Litteratur ist: was geht mich das erbarmungswürdige Geschwätz amerikani-
scher Wirr- und Flachköpfe an? Aber die Kraft zur mächtigsten Realität der
Vision ist nicht nur verträglich mit der mächtigsten Kraft zur That, zum Ungeheu-
ren der That, zum Verbrechen — sie setzt sie selbst voraus... Wir wissen
lange nicht genug von Lord Bacon, dem ersten Realisten in jedem grossen Sinn
des Wortes, um zu wissen, was er Alles gethan, was er gewollt, was er mit
sich erlebt hat...] Shakespeare hat N. bereits in seiner Jugend kennengelernt
(vgl. Brobjer 2008a, 109-115 u. Large 2009b, 10-30); in seiner Bibliothek haben
sich englische und deutsche Werkausgaben erhalten (NPB 550-557). Shake-
speares The Tragedy of Julius Caesar (1599) — vgl. NK KSA 6, 130, 19-26 —
kommt bei N. trotz eines einschlägigen Schulaufsatzes von 1863 (KGW I 3, 15[3],
 
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