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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0458
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Stellenkommentar EH klug, KSA 6, S. 291-292 435

wie ein tiefer Traum lag die märchenhafte Lagunenstadt im Schatten vor mir
ausgedehnt. Aus dem lautlosesten Schweigen erhob sich da der mächtige rauhe
Klageruf eines soeben auf seiner Barke erwachten Gondolier's, mit welchem
dieser in wiederholten Absätzen in die Nacht hineinrief, bis aus weitester Ferne
der gleiche Ruf dem nächtlichen Kanal entlang antwortete: ich erkannte die
uralte schwermüthige, melodische Phrase, welcher seiner Zeit auch die
bekannten Verse Tasso's unterlegt worden, die aber an sich gewiß so alt ist,
als Venedigs Kanäle mit ihrer Bevölkerung. Nach feierlichen Pausen belebte
sich endlich der weithin tönende Dialog und schien sich im Einklang zu ver-
schmelzen, bis aus der Nähe wie aus der Ferne sanft das Tönen wieder im
neugewonnenen Schlummer erlosch. Was konnte mir das von der Sonne
bestrahlte, bunt durchwimmelte Venedig des Tages von sich sagen, das jener
tönende Nachttraum mir nicht unendlich tiefer unmittelbar zum Bewußtsein
gebracht gehabt hätte?" (Wagner 1871-1873, 9, 92 f. = Wagner 1907, 9, 74) N.
verfasste sein Venedig-Gedicht im Herbst 1888 in Turin unter deutlicher
Anspielung auf die Motive bei Goethe und Wagner.
Overbeck berichtete Köselitz am 15. 01. 1889 von der Heimholung N.s aus
Turin nach dessen Zusammenbruch und merkte an, N. sei „durch Chloral
schlafsüchtig gemacht, doch immer wieder erwachend, aber höchstens zu lau-
ten Gesängen sich steigernd, darunter in der Nacht das wunderschöne Gondel-
lied Nietzsche contra Wagner S. 7, dessen Herkunft ich später entdeckte, wäh-
rend mir beim Hören selbst völlig räthselhaft war, wie der Sänger einen solchen
Text noch zu Stande brachte bei übrigens völlig ungethümlicher Melodie."
(Köselitz / Overbeck 1998, 206 f.).

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291, 28-292, 3 In Alledem — in der Wahl von Nahrung, von Ort und Klima, von
Erholung — gebietet ein Instinkt der Selbsterhaltung, der sich als Instinkt der
Selbstvertheidigung am unzweideutigsten ausspricht. Vieles nicht sehn,
nicht hören, nicht an sich herankommen lassen — erste Klugheit, erster Beweis
dafür, dass man kein Zufall, sondern eine Necessität ist.] Vgl. NK 368, 10-16,
zum Instinkt der Selbsterhaltung auch NK KSA 6, 146, 5 f.
292, 3 f. Das gangbare Wort für diesen Selbstvertheidigungs-Instinkt ist Ge-
schmack.] N.s vielgestaltige Überlegungen zum ästhetischen Leitbegriff des
Geschmacks, der ihm in Gestalt des goüt aus der französischen Moralistik, aus
Baltasar Graciän (vgl. z. B. Gracian 1877, 40 f. zum „erhabenen Geschmack")
und aus den zeitgenössischen literatur- und kunstkritischen Diskussionen in
 
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