596 Ecce homo. Wie man wird, was man ist
selbst, so sehr er sich in 358, 33-359, 3 gegen eine antisemitische Lesart der
Geschichte verwahrte, noch im Spätwerk wieder, vgl. NK KSA 6, 223, 22-25.
Treitschkes Auslassungen gipfeln im Satz: „Bis in die Kreise der höchsten Bil-
dung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit
oder nationalen Hochmuths weit von sich weisen würden, tönt es heute wie
aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!" (Ebd., 575) Freilich sugge-
rierte Treitschke, er behaupte dies nicht und unterstütze vielmehr die rechtli-
che Emanzipation der Juden vollumfänglich.
359, 3-18 Jüngst machte ein Idioten-Urtheil in historicis, ein Satz des zum Glück
verblichenen ästhetischen Schwaben Vischer, die Runde durch die deutschen
Zeitungen als eine „Wahrheit", zu der jeder Deutsche Ja sagen müsse: „Die
Renaissance und die Reformation, Beide zusammen machen erst ein Ganzes —
die aesthetische Wiedergeburt und die sittliche Wiedergeburt." — Bei solchen
Sätzen geht es mit meiner Geduld zu Ende, und ich spüre Lust, ich fühle es selbst
als Pflicht, den Deutschen einmal zu sagen, was sie Alles schon auf dem Gewis-
sen haben. Alle grossen Cultur-Verbrechen von vier Jahrhunder-
ten haben sie auf dem Gewissen!... Und immer aus dem gleichen
Grunde, aus ihrer innerlichsten Feigheit vor der Realität, die auch die Feigheit
vor der Wahrheit ist, aus ihrer bei ihnen Instinkt gewordnen Unwahrhaftigkeit,
aus „Idealismus"...] Vgl. NK KSA 6, 251, 12-26. Das Urteil des Hegelianers Fried-
rich Theodor Vischer (1807-1887) ist z. B. in den Vischer-Erinnerungen von Ilse
Frapan überliefert, die in Buchform allerdings erst 1889 erschienen zu sein
scheinen: „Mit einem Freimut ohne gleichen sprach er über Religion, Konfes-
sion; er bekannte sich überall als Feind der katholischen Hierarchie, obwohl
eine gute Zahl Katholiken unter seinen Zuhörern sein mochten. ,Die Renais-
sance war nur die ästhetische Wiedergeburt, und sie allein vermag den Men-
schen nicht sittlich zu erhöhen; die Reformation mußte hinzu kommen; sie
war die sittliche Wiedergeburt des Gewissens. Es darf nie vergessen werden,
daß ihre Veranlassung war die sittliche Entrüstung darüber, daß man seiner
Seele Heil sollte erkaufen können mit Geld.'" (Frapan 1889, 32).
N. hatte sich schon 1870 Teile von Vischers Ästhetile ausgeliehen (Crescenzi
1994, 400) und sich wohl auch später gelegentlich mit dessen weitläufigem
Schrifttum beschäftigt (vgl. Venturelli 2003, 180-198). In seinem satirisch-auto-
biographischen Roman Auch einer ließ Vischer sein Roman-Alter-Ego zu Refor-
mation und Renaissance notieren: „Es ist wahr, die Renaissance war nur die
eine Hälfte der Wiedergeburt, die andere die Reformation. Diese die ethische,
und wie nothwendig! Eine Halbheit zwar, auch mit ihrem eigenen Maßstab,
dem der Religion, gemessen. Aber durch Halbheiten geht die Geschichte; die
Menschheit erträgt nichts Ganzes. Und wohl der Halbheit, die ein gut Stück
vom Centrum, vom Kern des Ganzen hat! Luther hat viel Unnöthiges stehen
selbst, so sehr er sich in 358, 33-359, 3 gegen eine antisemitische Lesart der
Geschichte verwahrte, noch im Spätwerk wieder, vgl. NK KSA 6, 223, 22-25.
Treitschkes Auslassungen gipfeln im Satz: „Bis in die Kreise der höchsten Bil-
dung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit
oder nationalen Hochmuths weit von sich weisen würden, tönt es heute wie
aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!" (Ebd., 575) Freilich sugge-
rierte Treitschke, er behaupte dies nicht und unterstütze vielmehr die rechtli-
che Emanzipation der Juden vollumfänglich.
359, 3-18 Jüngst machte ein Idioten-Urtheil in historicis, ein Satz des zum Glück
verblichenen ästhetischen Schwaben Vischer, die Runde durch die deutschen
Zeitungen als eine „Wahrheit", zu der jeder Deutsche Ja sagen müsse: „Die
Renaissance und die Reformation, Beide zusammen machen erst ein Ganzes —
die aesthetische Wiedergeburt und die sittliche Wiedergeburt." — Bei solchen
Sätzen geht es mit meiner Geduld zu Ende, und ich spüre Lust, ich fühle es selbst
als Pflicht, den Deutschen einmal zu sagen, was sie Alles schon auf dem Gewis-
sen haben. Alle grossen Cultur-Verbrechen von vier Jahrhunder-
ten haben sie auf dem Gewissen!... Und immer aus dem gleichen
Grunde, aus ihrer innerlichsten Feigheit vor der Realität, die auch die Feigheit
vor der Wahrheit ist, aus ihrer bei ihnen Instinkt gewordnen Unwahrhaftigkeit,
aus „Idealismus"...] Vgl. NK KSA 6, 251, 12-26. Das Urteil des Hegelianers Fried-
rich Theodor Vischer (1807-1887) ist z. B. in den Vischer-Erinnerungen von Ilse
Frapan überliefert, die in Buchform allerdings erst 1889 erschienen zu sein
scheinen: „Mit einem Freimut ohne gleichen sprach er über Religion, Konfes-
sion; er bekannte sich überall als Feind der katholischen Hierarchie, obwohl
eine gute Zahl Katholiken unter seinen Zuhörern sein mochten. ,Die Renais-
sance war nur die ästhetische Wiedergeburt, und sie allein vermag den Men-
schen nicht sittlich zu erhöhen; die Reformation mußte hinzu kommen; sie
war die sittliche Wiedergeburt des Gewissens. Es darf nie vergessen werden,
daß ihre Veranlassung war die sittliche Entrüstung darüber, daß man seiner
Seele Heil sollte erkaufen können mit Geld.'" (Frapan 1889, 32).
N. hatte sich schon 1870 Teile von Vischers Ästhetile ausgeliehen (Crescenzi
1994, 400) und sich wohl auch später gelegentlich mit dessen weitläufigem
Schrifttum beschäftigt (vgl. Venturelli 2003, 180-198). In seinem satirisch-auto-
biographischen Roman Auch einer ließ Vischer sein Roman-Alter-Ego zu Refor-
mation und Renaissance notieren: „Es ist wahr, die Renaissance war nur die
eine Hälfte der Wiedergeburt, die andere die Reformation. Diese die ethische,
und wie nothwendig! Eine Halbheit zwar, auch mit ihrem eigenen Maßstab,
dem der Religion, gemessen. Aber durch Halbheiten geht die Geschichte; die
Menschheit erträgt nichts Ganzes. Und wohl der Halbheit, die ein gut Stück
vom Centrum, vom Kern des Ganzen hat! Luther hat viel Unnöthiges stehen