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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0623
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600 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

daneben auch, in der Moral, von Schleiermacher ausgeführt worden sind, wird
je etwas Rechtes in der Philosophie geleistet werden." (Frauenstädt 1873-1874,
6, 9) N. ergänzte diese Negativ-Liste um Kant und Leibniz — sowie um Scho-
penhauer selbst.
361, 12-17 Sie haben nie ein siebzehntes Jahrhundert harter Selbstprüfung
durchgemacht wie die Franzosen, ein La Rochefoucauld, ein Descartes sind hun-
dert Mal in Rechtschaffenheit den ersten Deutschen überlegen, — sie haben bis
heute keinen Psychologen gehabt.] Das siede classique, das 17. Jahrhundert in
Frankreich gilt N. als Inbegriff einer „vornehmen Cultur" (JGB 224, KSA 5, 158,
23), die dem Stilwirrwarr intellektuelle Homogenität entgegensetzte (vgl. NK
285, 16-19). Es ist bezeichnend, dass N. hier jenen Philosophen nicht nennt,
mit dem er sich aus dieser Epoche am intensivsten beschäftigt hat, nämlich
Blaise Pascal (vgl NK KSA 6, 94, 28-30 u. NK KSA 6, 171, 30-34). Dann wäre
dem Leser ins Auge gesprungen, dass die fragliche vornehme Kultur zutiefst
christlich geprägt war — namentlich auch in der hier gerühmten Psychologie —,
und sich zumindest in dieser Hinsicht schlecht als Gegenstück zur „christli-
chen" deutschen Gegenwart eignet (vgl. NK 361, 27-29).
Francois de La Rochefoucauld repräsentierte für N. die von ihm hochge-
schätzte französische Moralistik, als „grosse[r] Meister der psychologischen
Sentenz" (MA I 35, KSA 2, 57 f., vgl. MA I 36, KSA 2, 59) und als Kritiker des
Mitleids (MA I 50, KSA 2, 70 f.; GM Vorrede 5, KSA 5, 252). In der Einleitung von
Sainte-Beuve zu seiner Ausgabe von La Rochefoucaulds Reflexions, sentences et
maximes morales hat N. den folgenden Absatz mit Randstrich links und rechts
markiert und dazu „15. Nov. 1877" vermerkt: „On ne peut assez louer La Roche-
foucauld d'une chose, c'est qu'en disant beaucoup il n'exprime pas trop. Sa
maniere, sa forme est toujours honorable pour l'homme, quand le fond l'est si
peu." (La Rochefoucauld o. J., XV. „Man kann La Rochefoucauld nicht genug
für eine Sache loben: Indem er viel sagt, drückt er nicht zuviel aus. Seine Art,
seine Form sind immer ehrend für den Menschen, auch wenn der Inhalt es
sehr wenig ist.")
Descartes als Pate des ontologischen Leib-Seele-Dualismus pflegt in ande-
ren Texten N.s weit weniger wohlwollend behandelt zu werden; als Repräsen-
tant einer besonders scharfsichtigen Psychologie erschien er N. sonst nicht.
Immerhin heißt es in JGB 54, KSA 5, 73, 5-8: „Seit Descartes — und zwar mehr
aus Trotz gegen ihn, als auf Grund seines Vorgangs — macht man seitens aller
Philosophen ein Attentat auf den alten Seelen-Begriff". Andernorts steht er für
Vernunft-(Aber-)Glauben — „Descartes war oberflächlich" (JGB 191, KSA 5, 113,
5). In AC 14 rechnete ihm N. immerhin die weitgehende Physiologisierung des
Lebens als Verdienst an, siehe NK KSA 6, 180, 15-21.
 
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