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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

DOI Kapitel:
I. Das Geschäftsjahr 2005
DOI Kapitel:
Jahresfeier am 21. Mai 2005
DOI Artikel:
Stierle, Karlheinz: Zeitgestalten - Figurationen der Zeitlichkeit in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0027
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40 | JAHRESFEIER

sein Verlangen nach Entisolierung, Rückkehr in die Kontinuität der persönlichen
und überpersönlichen Lebenszusamnienhänge und mehr noch nach den höheren
Formen von horizontaler und vertikaler Korrespondenz, die einzig das Bewußtsein
selbst erschafft, wenn es das Gegenwärtige in den Austausch der Metapher bringt
oder Vergangenes und Gegenwärtiges metaphorisch ineinander blendet. Jedes der
Zeitgehäuse konfrontiert den Leser mit neuen Zeitgestalten, in denen sich neue
Erfahrungen der Zeit manifestieren. Zugleich spiegelt sich in der Abfolge der Zeit-
gehäuse Marcels Weg zu seiner schriftstellerischen Berufung, das ungreifbare Wesen
der Zeit immer umfassender im Medium einer innovativen literarischen Form zu
Bewußtsein zu bringen.
Erstes und frühestes Zimmer in Marcels im dunklen Zimmer erinnerter Zim-
merflucht ist das abendliche Zimmer des Kindes in Combray, dem sommerlichen
Aufenthalt der Eltern bei den Großeltern, wo der kleine Marcel früh, „de bonne
heure“, dem Schrecken des Zu-Bett-Gehens und der Schlaflosigkeit entgegensieht.
Den Schrecken scheint die Gewohnheit des Zimmers zu bannen. Aber um Marcel
die Zeit bis zum Zu-Bett-Gehen zu vertreiben, haben die Eltern ihm eine Laterna
magica geschenkt, deren unsicher auf dem Zimmereingang schwankende Bilder mit
ihrer von Jetzt zu Jetzt weiterspringenden mittelalterlichen Geschichte von Golo
und Guenievre de Brabant das Kind in den Schrecken eines imaginären Jetzt stür-
zen, aber in ihm zugleich auch eine erste Vorstellung von der Tiefe der Zeit
erwecken.
Em zweites Zeitgehäuse mit der noch unzugänglich gebliebenen Tagwelt von
Combray öffnet sich durch jene berühmte unwillkürliche Erinnerung, dem Souve-
nir involontaire, der Marcel zuteil wird, als er eines Tages zufällig wieder eine in Lin-
denblütentee getauchte Madeleine ißt, wie er dies so oft in Combray bei der im
Hause wohnenden Großtante Leonie getan hatte. Das überschwängliche Glücksge-
fühl, das diese plötzlich hervortretende Erinnerung begleitet, bleibt hier noch ein
unauflösbares Rätsel: ,,(...) obwohl ich noch nicht wußte und mir die Entdeckung
erst sehr viel später gelang, warum diese Erinnerung mich so glücklich machte“8.
In der Tagwelt von Combray scheint der Schrecken des Jetzt gebannt. In der
Mitte dieser Welt der unumstößlichen Gewohnheit, die den Lauf der Stunden, der
Tage und Wochen ordnet, lebt, in ihrem Zimmer, das sie nicht mehr verläßt, Tante
Leonie, gleichsam eine allegorische Göttin der Gewohnheit und Zeitgestalt in
emphatischer Bedeutung. In dieser Welt gleitet und verrinnt die Zeit unmerklich
und führt Marcel von der Schwelle des Nicht-Mehr-Kindseins bis an die Schwelle
der Pubertät. Die Jahre werden gleichsam ein einziger endloser Tag, wie zuerst Hans
Robert Jauß in seiner grundlegenden Untersuchung „Zeit und Erinnerung in
Marcel Prousts A la recherche du temps perdu“ gezeigt hat.
Ein Bollwerk gegen das Jetzt scheint aber auch die Kirche zu sein, deren mäch-
tiger Bau die kleine Stadt überragt und schon von fern die Feriengäste begrüßt. Mit

8 (...) quoique je ne süsse pas encore et dusse remettre ä bien plus tard de decouvrirpourquoi ce
Souvenir me rendait si heureux (...); I, 47.
 
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