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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2005
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Öffentliche Gesamtsitzung in Freiburg am 22. Oktober 2005
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Kühlmann, Wilhelm: Das Erdbeben von Lissabon als literarisches Ereignis: Johann Peter Uz' Gedicht "Das Erdbeben im historisch-epochalen Kontext"
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Sparn, Walter: Trug für Gott? Aufstieg und Fall der philosophisch-theologischen Theodizee der Neuzeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0083
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SITZUNGEN

Freilich ist zu beachten, daß diese Lissabon entgegengesetzte, „Freude“
suchende und für Freude empfängliche Lebensführung nicht als faktisch gepriesen,
sondern im Modus des Wünschens und Wollens beschworen wird. Dies gilt auch für
die Korrespondenz von geselliger Emotionalität, poetischer „Lust“ und dem Wohl-
laut, der in der Natur ertönt. Die Nachtigall singt hier nicht wie im 17. Jahrhundert
zum Lob Gottes, sich selbst verzehrend, sondern gehört zeichenhaft zum ‘amoenen’
Ambiente dichterischer Selbstbesinnung. In ihr erscheint nicht das Tremendum des
rächenden Gottes, sondern - durchaus anthropozentrisch - der „göttliche Gedanke“,
der die „Stirn“ des Dichters auszeichnet. Die eudämomstische Entdeckung des
Tugendglücks, die seelisches Leben im Modus des Gemeßens einschließt, schließt
postulativ im hyperbolisch geradezu hochgetriebenen Gegensatz zu der in Lissabon
ansichtigen Vernichtung die Gewißheit em: „Impavidum ferient ruinae“. Ramler
hatte den Vers zitiert. Uz legt ihn am Schluß seines Gedichts situationsbezogen und
im Horizont der ihn überzeugenden philosophischen Anthropologie aus. Damit
nahm er eindeutig Partei im Feld kontroverser Positionen und ihrer axiomatischen
Diskurse.

WALTER SPARN: „TRUG FÜR GOTT? AUFSTIEG UND FÄLL
DER PHILOSOPHISCH-THEOLOGISCHEN THEODIZEE DER NEUZEIT"
Der Vortrag stellte die gängige Meinung infrage, das Erdbeben von Lissabon 1755
habe den neuzeitlichen Optimismus zerbrochen und dessen Theodizee als „Trug für
Gott“ (Hiob 13,7) entlarvt.‘Lissabon’ hat nicht das Scheitern dieses Theodizee-Pro-
jekts bewirkt, wohl aber, neben anderen und davon unabhängigen Faktoren, eine
Korrektur der Leistungen, die von diesem Projekt zunächst erwartet worden waren.
Während die Zielsetzung der Theodizee G.W Leibniz’ bis zu der G.W F. Hegels
immer wieder erneuert wurde, erwiesen sich seit der Mitte des 18. Jh.Veränderun-
gen als notwendig, die vor allem die Art der Identifikation des Interesses der Vernunft
(an theoretischer und praktischer Orientierung in der gegebenen, mit Übeln behaf-
teten Welt) mit der „Sache Gottes“ (als weisem Urheber dieser Welt) betrafen. Kul-
turell und religiös aktuell bleibt das Theodizeeproblems für jedes Denken, das den
Zusammenhang von Naturnotwendigkeit und Geschichtserbe einerseits, von Frei-
heit und Gerechtigkeit andererseits aufklären will.
Zunächst charakterisierte der Vortrag, ausgehend von J. W Goethes nachträgli-
cher Stilisierung des „Weltereignisses“, den „1. November 1755“ als emblematisches
Datum des Scheiterns nicht eigentlich der Leibniz’schen Theodizee, sondern ihrer
Fortbildung durch populäre Autoren wie A. Pope oder den frühen Voltaire. Wie I.
Kant vor und nach 1755 mit der Mehrheit der Zeitgenossen meinte, ist das Chaos
eines nach Naturgesetzen ablaufenden Erdbebens mit einem diese Ordnung begrün-
denden Gott verträglich. Anders der moralische Anstoß, daß Gerechte wie Ungerech-
te gleichem Verderben preisgegeben waren, und er wurde in dem Maß zur Aporie,
in dem der in der Theodizee unterstellte Gottesbegrifl theistisch auf einen rationalen
Akteur in Analogie zum Menschen eingeengt wurde, in dem mithin der Weltlauf
 
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