12 | Stefan Weinfurter
Neben dem Selbstbezug in den spirituellen Enklaven bildete sich in der monastischen
Welt überdies ein neuer Sinn für Zeit und Zukunft aus. ¹⁸ Damit ist ein ganz
wesentlicher Aspekt des klösterlichen Lebensmodells angesprochen. Jedes Gemeinschaftsmitglied
wurde mit dem Bewusstsein konfrontiert, in eine existenzielle Zeit
einzutreten, nämlich in eine Projektzeit, die eine Bewährung erfordert. Hier tritt
wieder die Kraft der monastischen Lebensordnung hervor.
Mönchtum und Klöster sind freilich im Mittelalter keineswegs eine feste Größe.
Das ist im Grunde eine Selbstverständlichkeit. Doch gerade die feinen oder
groben Unterschiede im diachronischen und synchronischen Sinne sind überaus
aufschlussreich, weil sie den prozesshaften Charakter der monastischen Lebensordnungen
und die jeweiligen Ausprägungen beachtenswerter Innovationen erkennen
lassen. Darauf geht Giorgio Agamben ein ¹⁹ und dieser Aspekt bildet auch einen
besonderen Schwerpunkt im Buch von Gert Melville. ²⁰ Die Ordnung der Frühzeit
der Klöster beruhte auf einer Regel. Die Mönchsregel an sich, die an der Wende
vom 4. zum 5. Jahrhundert in Erscheinung tritt, kann man sogar als eine ganz neue
»Literaturform« bezeichnen. Der karolingische Reformer Benedikt von Aniane ließ
25 verschiedene Mönchsregeln im Codex regularum sammeln. ²¹ Sie konnten ganz
kurz sein wie die Augustinusregel (von der verschiedene Versionen überliefert wurden
²² ) oder hunderte von Seiten umfassen wie die Regula magistri. ²³ Sie regelten
das Leben einer Gruppe von Individuen, nicht selten durch strenge Sanktionen und
bis ins kleinste Detail. Sie lenkten Leben und Sitten der Gemeinschaftsmitglieder
sowohl in individueller wie in kollektiver Hinsicht. ²⁴
Aber im späten 11. und im 12. Jahrhundert beobachten wir einen fundamentalen
Wandel. Man könnte sagen: Das »Kloster« erwachte und entwickelte eine geradezu
ungeheure Dynamik, zuerst in Frankreich und Italien, dann auch in Deutschland.
Herbert Grundmann nannte diesen Vorgang »religiöse Bewegungen«. ²⁵ Er hätte
auch sagen können: die »Epoche der neuartigen Klosterkultur«. Das Mönchtum
und die wie Mönche lebenden Regularkanoniker verstanden sich und ihren Lebensentwurf
tatsächlich als etwas Neues. Es ging jetzt darum, regula und vita der
18 Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern (wie Anm. 2), S. 379.
19 Wie Anm. 3.
20 Wie Anm. 5.
21 Benedikt von Aniane, Codex regularum monasticarum et canonicarum, in: Patrologia Latina, hg. von
Jacques-Paul Migne, Bd. 103, Paris 1851, Sp. 393 –702. Vgl. Gereon Becht-Jördens, Die Vita Aegil des
Brun Candidus als Quelle zur Fragen aus der Geschichte Fuldas im Zeitalter der anianischen Reform, in:
Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 42, 1992, S. 19 – 48, hier S. 42– 44.
22 Luc Verheijen, La règle de Saint Augustin, 2 Bde., Paris 1967.
23 Adalbert de Vogüé, La règle du maître, 3 Bde. (Sources chrétiennes 105 –107/Série des textes monastiques
d’Occident 14 –16), Paris 1964.
24 Melville, Die Welt (wie Anm. 5), S. 16.
25 Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen, 2. verbesserte und ergänzte Aufl. Hildesheim 1961.
Neben dem Selbstbezug in den spirituellen Enklaven bildete sich in der monastischen
Welt überdies ein neuer Sinn für Zeit und Zukunft aus. ¹⁸ Damit ist ein ganz
wesentlicher Aspekt des klösterlichen Lebensmodells angesprochen. Jedes Gemeinschaftsmitglied
wurde mit dem Bewusstsein konfrontiert, in eine existenzielle Zeit
einzutreten, nämlich in eine Projektzeit, die eine Bewährung erfordert. Hier tritt
wieder die Kraft der monastischen Lebensordnung hervor.
Mönchtum und Klöster sind freilich im Mittelalter keineswegs eine feste Größe.
Das ist im Grunde eine Selbstverständlichkeit. Doch gerade die feinen oder
groben Unterschiede im diachronischen und synchronischen Sinne sind überaus
aufschlussreich, weil sie den prozesshaften Charakter der monastischen Lebensordnungen
und die jeweiligen Ausprägungen beachtenswerter Innovationen erkennen
lassen. Darauf geht Giorgio Agamben ein ¹⁹ und dieser Aspekt bildet auch einen
besonderen Schwerpunkt im Buch von Gert Melville. ²⁰ Die Ordnung der Frühzeit
der Klöster beruhte auf einer Regel. Die Mönchsregel an sich, die an der Wende
vom 4. zum 5. Jahrhundert in Erscheinung tritt, kann man sogar als eine ganz neue
»Literaturform« bezeichnen. Der karolingische Reformer Benedikt von Aniane ließ
25 verschiedene Mönchsregeln im Codex regularum sammeln. ²¹ Sie konnten ganz
kurz sein wie die Augustinusregel (von der verschiedene Versionen überliefert wurden
²² ) oder hunderte von Seiten umfassen wie die Regula magistri. ²³ Sie regelten
das Leben einer Gruppe von Individuen, nicht selten durch strenge Sanktionen und
bis ins kleinste Detail. Sie lenkten Leben und Sitten der Gemeinschaftsmitglieder
sowohl in individueller wie in kollektiver Hinsicht. ²⁴
Aber im späten 11. und im 12. Jahrhundert beobachten wir einen fundamentalen
Wandel. Man könnte sagen: Das »Kloster« erwachte und entwickelte eine geradezu
ungeheure Dynamik, zuerst in Frankreich und Italien, dann auch in Deutschland.
Herbert Grundmann nannte diesen Vorgang »religiöse Bewegungen«. ²⁵ Er hätte
auch sagen können: die »Epoche der neuartigen Klosterkultur«. Das Mönchtum
und die wie Mönche lebenden Regularkanoniker verstanden sich und ihren Lebensentwurf
tatsächlich als etwas Neues. Es ging jetzt darum, regula und vita der
18 Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern (wie Anm. 2), S. 379.
19 Wie Anm. 3.
20 Wie Anm. 5.
21 Benedikt von Aniane, Codex regularum monasticarum et canonicarum, in: Patrologia Latina, hg. von
Jacques-Paul Migne, Bd. 103, Paris 1851, Sp. 393 –702. Vgl. Gereon Becht-Jördens, Die Vita Aegil des
Brun Candidus als Quelle zur Fragen aus der Geschichte Fuldas im Zeitalter der anianischen Reform, in:
Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 42, 1992, S. 19 – 48, hier S. 42– 44.
22 Luc Verheijen, La règle de Saint Augustin, 2 Bde., Paris 1967.
23 Adalbert de Vogüé, La règle du maître, 3 Bde. (Sources chrétiennes 105 –107/Série des textes monastiques
d’Occident 14 –16), Paris 1964.
24 Melville, Die Welt (wie Anm. 5), S. 16.
25 Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen, 2. verbesserte und ergänzte Aufl. Hildesheim 1961.