Deuten, Ordnen und Aneignen | 219
Fragt man nach Hintergründen und Verbreitung des Elucidarum im 12. Jahrhundert,
werden jedoch zusätzliche Kontexte seines Innovationserfolgs deutlich:
Wie in der Forschung vielfach erwähnt wurde, popularisierte Honorius die Schriften
Anselms von Canterbury († 1109) und anderer gelehrter Autoren sehr stark.
Man hat ihm aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht eine »Banalisierung Anselms«
attestiert und ihn etwas abwertend als bloßen Handbuchautor und »vulgarisateur«
bezeichnet. ²⁸ Der einfache, popularisierende Duktus des Elucidarium und seine
Betonung von Sünde und Buße dürften sich jedoch einem Wunsch nach Vermittlung
an ein Laienpublikum verdanken. Wie wir dank der Forschungen Flints und
anderer sagen können, wurde das Elucidarium zwar offenbar zur Belehrung und
Erbauung von englischen und süddeutschen Reformbenediktinern geschrieben und
abgeschrieben. Entstehungshintergrund war jedoch der heftige Druck auf englische
Mönche, sich in der Seelsorge nützlich zu machen. ²⁹ Die Form der Wissenskompilation
des Honorius Augustodunensis wuchs so offensichtlich aus einem unmittelbaren
pastoralen Bedarf heraus.
Beim Durchblättern des Elucidarium fallen zudem weitere Einflussfaktoren
auf einen steigenden Bedarf an bestimmten Wissensbeständen auf: Der Text gibt
offensichtlich nicht nur auf allgemeine Fragen zum christlichen Leben Antworten,
sondern informiert auch zu spezifischen, kontrovers diskutierten Themen des
11. Jahrhunderts, auf die man mittlerweile in der Seelsorge besonders achtete. Sehr
ausführlich wird im ersten Buch des Elucidarium beispielsweise die Frage diskutiert,
ob der Empfang der Sakramente bei unwürdigen, da verheirateten oder simonistischen
Priestern unwirksam sei oder den Gläubigen schade ³⁰ – ein Thema, das
im Rahmen der Kirchenreform breit diskutiert worden war, die Kirche in ihren
wesentlichsten Grundlagen betraf und äußerste politische und soziale Sprengkraft
besaß. Direkt vor den entsprechenden Passagen behandelt das Elucidarium auch
knapp die Natur der Eucharistie, um deren Charakter es zwischen 1049 und 1079
intensive Diskussionen zwischen verschiedenen gelehrten Netzwerken gegeben
hatte. ³¹ Die hohe Öffentlichkeitswirkung des Themas hing ebenfalls daran, dass die
28 Vgl. für die (zumeist eher negativen) Einschätzungen des Honorius Augustodunensis die Zusammenfassung
bei Gottschall, Das »Elucidarium« (wie Anm. 19), S. 12–13; Sturlese, Die deutsche Philosophie
(wie Anm. 3), S. 119 –129; Christine Bischoff, Le Texte, in: Herrad of Hohenbourg, Hortus
Deliciarum, hg. von Rosalie Green/Thomas Julian Brown/Kenneth Levy, Bd. 2: Commentary (Studies
of the Warburg Institute 36), London 1979, S. 37– 62, hier S. 46.
29 Vgl. Flint, The »Elucidarius« (wie Anm. 19).
30 Vgl. Honorius Augustodunensis, Elucidarium (wie Anm. 19), lib. I, cap. 185 –192, S. 395 –397. Zum
Kontext vgl. Robert Ian Moore, The War on Heresy, Cambridge, Ma. 2012, hier S. 71– 86.
31 Vgl. jeweils mit weiteren Verweisen Steckel, Kulturen des Lehrens (wie Anm. 11), S. 886 –923; Charles
M. Radding/Francis Newton, Theology, Rhetoric, and Politics in the Eucharistic Controversy, 1078 –
1079. Alberic of Monte Cassino against Berengar of Tours, New York 2003.
Fragt man nach Hintergründen und Verbreitung des Elucidarum im 12. Jahrhundert,
werden jedoch zusätzliche Kontexte seines Innovationserfolgs deutlich:
Wie in der Forschung vielfach erwähnt wurde, popularisierte Honorius die Schriften
Anselms von Canterbury († 1109) und anderer gelehrter Autoren sehr stark.
Man hat ihm aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht eine »Banalisierung Anselms«
attestiert und ihn etwas abwertend als bloßen Handbuchautor und »vulgarisateur«
bezeichnet. ²⁸ Der einfache, popularisierende Duktus des Elucidarium und seine
Betonung von Sünde und Buße dürften sich jedoch einem Wunsch nach Vermittlung
an ein Laienpublikum verdanken. Wie wir dank der Forschungen Flints und
anderer sagen können, wurde das Elucidarium zwar offenbar zur Belehrung und
Erbauung von englischen und süddeutschen Reformbenediktinern geschrieben und
abgeschrieben. Entstehungshintergrund war jedoch der heftige Druck auf englische
Mönche, sich in der Seelsorge nützlich zu machen. ²⁹ Die Form der Wissenskompilation
des Honorius Augustodunensis wuchs so offensichtlich aus einem unmittelbaren
pastoralen Bedarf heraus.
Beim Durchblättern des Elucidarium fallen zudem weitere Einflussfaktoren
auf einen steigenden Bedarf an bestimmten Wissensbeständen auf: Der Text gibt
offensichtlich nicht nur auf allgemeine Fragen zum christlichen Leben Antworten,
sondern informiert auch zu spezifischen, kontrovers diskutierten Themen des
11. Jahrhunderts, auf die man mittlerweile in der Seelsorge besonders achtete. Sehr
ausführlich wird im ersten Buch des Elucidarium beispielsweise die Frage diskutiert,
ob der Empfang der Sakramente bei unwürdigen, da verheirateten oder simonistischen
Priestern unwirksam sei oder den Gläubigen schade ³⁰ – ein Thema, das
im Rahmen der Kirchenreform breit diskutiert worden war, die Kirche in ihren
wesentlichsten Grundlagen betraf und äußerste politische und soziale Sprengkraft
besaß. Direkt vor den entsprechenden Passagen behandelt das Elucidarium auch
knapp die Natur der Eucharistie, um deren Charakter es zwischen 1049 und 1079
intensive Diskussionen zwischen verschiedenen gelehrten Netzwerken gegeben
hatte. ³¹ Die hohe Öffentlichkeitswirkung des Themas hing ebenfalls daran, dass die
28 Vgl. für die (zumeist eher negativen) Einschätzungen des Honorius Augustodunensis die Zusammenfassung
bei Gottschall, Das »Elucidarium« (wie Anm. 19), S. 12–13; Sturlese, Die deutsche Philosophie
(wie Anm. 3), S. 119 –129; Christine Bischoff, Le Texte, in: Herrad of Hohenbourg, Hortus
Deliciarum, hg. von Rosalie Green/Thomas Julian Brown/Kenneth Levy, Bd. 2: Commentary (Studies
of the Warburg Institute 36), London 1979, S. 37– 62, hier S. 46.
29 Vgl. Flint, The »Elucidarius« (wie Anm. 19).
30 Vgl. Honorius Augustodunensis, Elucidarium (wie Anm. 19), lib. I, cap. 185 –192, S. 395 –397. Zum
Kontext vgl. Robert Ian Moore, The War on Heresy, Cambridge, Ma. 2012, hier S. 71– 86.
31 Vgl. jeweils mit weiteren Verweisen Steckel, Kulturen des Lehrens (wie Anm. 11), S. 886 –923; Charles
M. Radding/Francis Newton, Theology, Rhetoric, and Politics in the Eucharistic Controversy, 1078 –
1079. Alberic of Monte Cassino against Berengar of Tours, New York 2003.