230 | Sita Steckel
Unterschiede zwischen rein innerweltlich argumentierenden Disziplinen und einer
Wissenschaft, die auf transzendente Wahrheit bezogen war.
Innovative Resultate der Arbeit schon im Umkreis Anselms waren jedoch neue
materielle Formen kompendiöser Wissensspeicherung, voran die Glossa ordinaria
in ihrer typischen Form. In der kürzenden Bearbeitung der alten Bibelkommentare
adaptierte man das glosatus-Layout, also die Darstellung von Text und Kommentar
auf derselben Seite mit »Haupt«- sowie umlaufenden »Rand«-Kolumnen und
Interlinearglossen (möglicherweise allerdings erst nach dem Tod Anselms). Diese
Technik war bislang eher für andere Zwecke bekannt gewesen, etwa die kontemplative
Psalmenlektüre. ⁶³ Offenbar noch nicht in abschließender Form kodifiziert, aber
in verschiedenen lockeren Reihungen verbreitet wurden zudem die Musterlösungen
Anselms und seiner Schüler für pastorale und exegetische Probleme, die sententiae,
die in verschiedenen sogenannten Sentenzensammlungen tradiert wurden. ⁶⁴ Während
die Glossierung der gesamten Bibel für verschiedene Zwecke nutzbar war,
zeigen insbesondere die Sentenzensammlungen, dass man einerseits eine zunehmend
professionalisierte gelehrte Klärung der christlichen Lehre, andererseits aber
eine Nutzbarmachung der Autoritätenbestände für den spezifischen Kontext der
Seelsorge anstrebte. ⁶⁵
Was ihre Überlieferung betrifft, illustriert die gelehrte Wissensproduktion der
Schule Anselms von Laon einen Transferprozess, der durch enge Verknüpfungen
klösterlicher, klerikaler und schulischer Milieus unterstützt wurde: »Schulische«
Wissensvermittlung kam letztlich zustande, indem man ältere Praktiken der Bibelinterpretation
sozusagen aufs äußerste beschleunigte und klösterliche Traditionsbestände,
die wiederum wichtige Ressourcen bildeten, filterte und zuspitzte. Was
die Verbreitung und die Nutzung von Wissen betrifft, treten dagegen einerseits
Schulen, andererseits wiederum reformorientierte Klöster und Konvente hervor, die
sowohl die Glossa ordinaria wie die Sentenzensammlungen nicht nur abschrieben,
sondern offenbar auch »konsumierten«.
63 Vgl. Margaret Templeton Gibson, Carolingian glossed psalters, in: The Early Medieval Bible. Its Production,
Decoration and Use, hg. von Richard Gameson (Cambridge Studies in Palaeography and Codicology
2), Cambridge 1996, S. 78 –110.
64 Vgl. zu ihnen Giraud, Per verba magistri (wie Anm. 46), S. 185 –240; Franz Plazidus Bliemetzrieder,
Anselms von Laon systematische Sentenzen (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters.
Texte und Untersuchungen 8), Münster 1919; Gillian Rosemary Evans, Sententia, in: Latin Culture in
the Eleventh Century. Proceedings of the Third International Conference on Medieval Latin Studies.
Cambridge, September 9 –12 1998, hg. von Michael Wayne Herren/Cristopher James McDonough/
Ross Gilbert Arthur, 2 Bde. (Publications of the Journal of Medieval Latin 5), Turnhout 2002, Bd. 1,
S. 315 –323.
65 Vgl. für die Spannbreite der diskutierten moralischen Probleme Giraud, Per verba magistri (wie Anm. 4),
S. 241–337.
Unterschiede zwischen rein innerweltlich argumentierenden Disziplinen und einer
Wissenschaft, die auf transzendente Wahrheit bezogen war.
Innovative Resultate der Arbeit schon im Umkreis Anselms waren jedoch neue
materielle Formen kompendiöser Wissensspeicherung, voran die Glossa ordinaria
in ihrer typischen Form. In der kürzenden Bearbeitung der alten Bibelkommentare
adaptierte man das glosatus-Layout, also die Darstellung von Text und Kommentar
auf derselben Seite mit »Haupt«- sowie umlaufenden »Rand«-Kolumnen und
Interlinearglossen (möglicherweise allerdings erst nach dem Tod Anselms). Diese
Technik war bislang eher für andere Zwecke bekannt gewesen, etwa die kontemplative
Psalmenlektüre. ⁶³ Offenbar noch nicht in abschließender Form kodifiziert, aber
in verschiedenen lockeren Reihungen verbreitet wurden zudem die Musterlösungen
Anselms und seiner Schüler für pastorale und exegetische Probleme, die sententiae,
die in verschiedenen sogenannten Sentenzensammlungen tradiert wurden. ⁶⁴ Während
die Glossierung der gesamten Bibel für verschiedene Zwecke nutzbar war,
zeigen insbesondere die Sentenzensammlungen, dass man einerseits eine zunehmend
professionalisierte gelehrte Klärung der christlichen Lehre, andererseits aber
eine Nutzbarmachung der Autoritätenbestände für den spezifischen Kontext der
Seelsorge anstrebte. ⁶⁵
Was ihre Überlieferung betrifft, illustriert die gelehrte Wissensproduktion der
Schule Anselms von Laon einen Transferprozess, der durch enge Verknüpfungen
klösterlicher, klerikaler und schulischer Milieus unterstützt wurde: »Schulische«
Wissensvermittlung kam letztlich zustande, indem man ältere Praktiken der Bibelinterpretation
sozusagen aufs äußerste beschleunigte und klösterliche Traditionsbestände,
die wiederum wichtige Ressourcen bildeten, filterte und zuspitzte. Was
die Verbreitung und die Nutzung von Wissen betrifft, treten dagegen einerseits
Schulen, andererseits wiederum reformorientierte Klöster und Konvente hervor, die
sowohl die Glossa ordinaria wie die Sentenzensammlungen nicht nur abschrieben,
sondern offenbar auch »konsumierten«.
63 Vgl. Margaret Templeton Gibson, Carolingian glossed psalters, in: The Early Medieval Bible. Its Production,
Decoration and Use, hg. von Richard Gameson (Cambridge Studies in Palaeography and Codicology
2), Cambridge 1996, S. 78 –110.
64 Vgl. zu ihnen Giraud, Per verba magistri (wie Anm. 46), S. 185 –240; Franz Plazidus Bliemetzrieder,
Anselms von Laon systematische Sentenzen (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters.
Texte und Untersuchungen 8), Münster 1919; Gillian Rosemary Evans, Sententia, in: Latin Culture in
the Eleventh Century. Proceedings of the Third International Conference on Medieval Latin Studies.
Cambridge, September 9 –12 1998, hg. von Michael Wayne Herren/Cristopher James McDonough/
Ross Gilbert Arthur, 2 Bde. (Publications of the Journal of Medieval Latin 5), Turnhout 2002, Bd. 1,
S. 315 –323.
65 Vgl. für die Spannbreite der diskutierten moralischen Probleme Giraud, Per verba magistri (wie Anm. 4),
S. 241–337.