Deuten, Ordnen und Aneignen | 231
Denn tatsächlich können die bislang kontroversen Forschungsmeinungen zu
Anselm von Laon sich kaum anders vereinbaren lassen als durch die ausdrückliche
Annahme unterschiedlicher Leser- und Hörerschaften, die gelehrt-schulische,
kirchlich-pastorale oder klösterliche Orientierung aufweisen können: Wie einleitend
kurz bemerkt, hatte Valerie Flint (teils auf den Spuren Peter Classens) hervorgehoben,
dass frühe Handschriften der Glossa ordinaria und der Sentenzen
Anselms von Laon nicht zuletzt aus klösterlichen Bibliotheken im westeuropäischen-
und deutschsprachigen Raum überliefert sind. ⁶⁶ Die Bedeutung dieses Befundes
wurde dann kontrovers diskutiert, nicht zuletzt, weil auch die Innovativität
Anselms umstritten war. Flint überlegte, ob die deutlich in den klösterlichen Bereich
verweisende Überlieferung nicht als Zeichen gewertet werden müsse, dass
es gar keine weiterwirkende Schultradition in Laon gegeben habe. ⁶⁷ Dies ließ sich
mit dem Befund in Übereinstimmung bringen, dass Anselm von Laon offenbar
sehr viel stärker biblisch orientiert blieb als die auf ihn folgenden Theologen, die
eine dialektisch-logische Begriffsbildung bevorzugten. ⁶⁸ Doch hat Cédric Giraud
in seiner Studie Anselms ganz ausdrücklich gezeigt, dass Anselms mündliche wie
schriftliche Arbeitsweise eine starke schulische Tradition in Frankreich begründete,
der mehrere Sentenzensammlungen zuzuweisen sind. ⁶⁹ Sie verdanken sich offenbar
einem in dieser Generation letztlich neuen, spezifisch schulischen Traditionsstrang,
vorrangig Schülern Anselms, die selbst Lehrer wurden.
Der Inhalt der Sentenzensammlungen macht deutlich, warum diese Überlieferungsbefunde
sich gut zusammen denken lassen, sobald man »Kloster« und
»Schule« nicht länger als Gegensätze versteht: Die stark auf die Erläuterung der
Glaubensgrundsätze und besonders der Sakramente zugeschnittene Diskussion
verschiedenster Probleme, im thematischen Umfang dem viel knapperen Elucidarium
des Honorius Augustodunensis nicht unähnlich, war für höhere Schulen
genauso relevant wie für alte und neue Konvente, die mit Seelsorge für Laien oder
auch nur für eigene Insassen befasst waren.
Offenbar darf man um 1100 trotz zunehmend unterschiedlicher Interessen und
Zugänge keinen Gegensatz schulischer oder klösterlicher Wissensvermittlung ansetzen.
Eine knappe Betrachtung polemischer Auseinandersetzungen um gelehrte
Wissensvermittlung im 11. Jahrhundert ergibt überraschenderweise sogar ganz
andere Verwerfungen: Neben beginnenden Auseinandersetzungen um gelehrte
66 Vgl. die Literatur oben bei Anm. 15.
67 Vgl. Flint, The »School of Laon« (wie Anm. 15). Ein Überlieferungsschwerpunkt, der zumindest in der
großen Sammlung des sogenannten Liber pancrisis vertreten ist, liegt bei zisterziensischen Klöstern, vgl.
Giraud/Mews, Le Liber pancrisis (wie Anm. 46).
68 Vgl. dazu zuletzt Andrée, Anselm of Laon (wie Anm. 46).
69 Vgl. Giraud, Per verba magistri (wie Anm. 4), S. 389 – 435.
Denn tatsächlich können die bislang kontroversen Forschungsmeinungen zu
Anselm von Laon sich kaum anders vereinbaren lassen als durch die ausdrückliche
Annahme unterschiedlicher Leser- und Hörerschaften, die gelehrt-schulische,
kirchlich-pastorale oder klösterliche Orientierung aufweisen können: Wie einleitend
kurz bemerkt, hatte Valerie Flint (teils auf den Spuren Peter Classens) hervorgehoben,
dass frühe Handschriften der Glossa ordinaria und der Sentenzen
Anselms von Laon nicht zuletzt aus klösterlichen Bibliotheken im westeuropäischen-
und deutschsprachigen Raum überliefert sind. ⁶⁶ Die Bedeutung dieses Befundes
wurde dann kontrovers diskutiert, nicht zuletzt, weil auch die Innovativität
Anselms umstritten war. Flint überlegte, ob die deutlich in den klösterlichen Bereich
verweisende Überlieferung nicht als Zeichen gewertet werden müsse, dass
es gar keine weiterwirkende Schultradition in Laon gegeben habe. ⁶⁷ Dies ließ sich
mit dem Befund in Übereinstimmung bringen, dass Anselm von Laon offenbar
sehr viel stärker biblisch orientiert blieb als die auf ihn folgenden Theologen, die
eine dialektisch-logische Begriffsbildung bevorzugten. ⁶⁸ Doch hat Cédric Giraud
in seiner Studie Anselms ganz ausdrücklich gezeigt, dass Anselms mündliche wie
schriftliche Arbeitsweise eine starke schulische Tradition in Frankreich begründete,
der mehrere Sentenzensammlungen zuzuweisen sind. ⁶⁹ Sie verdanken sich offenbar
einem in dieser Generation letztlich neuen, spezifisch schulischen Traditionsstrang,
vorrangig Schülern Anselms, die selbst Lehrer wurden.
Der Inhalt der Sentenzensammlungen macht deutlich, warum diese Überlieferungsbefunde
sich gut zusammen denken lassen, sobald man »Kloster« und
»Schule« nicht länger als Gegensätze versteht: Die stark auf die Erläuterung der
Glaubensgrundsätze und besonders der Sakramente zugeschnittene Diskussion
verschiedenster Probleme, im thematischen Umfang dem viel knapperen Elucidarium
des Honorius Augustodunensis nicht unähnlich, war für höhere Schulen
genauso relevant wie für alte und neue Konvente, die mit Seelsorge für Laien oder
auch nur für eigene Insassen befasst waren.
Offenbar darf man um 1100 trotz zunehmend unterschiedlicher Interessen und
Zugänge keinen Gegensatz schulischer oder klösterlicher Wissensvermittlung ansetzen.
Eine knappe Betrachtung polemischer Auseinandersetzungen um gelehrte
Wissensvermittlung im 11. Jahrhundert ergibt überraschenderweise sogar ganz
andere Verwerfungen: Neben beginnenden Auseinandersetzungen um gelehrte
66 Vgl. die Literatur oben bei Anm. 15.
67 Vgl. Flint, The »School of Laon« (wie Anm. 15). Ein Überlieferungsschwerpunkt, der zumindest in der
großen Sammlung des sogenannten Liber pancrisis vertreten ist, liegt bei zisterziensischen Klöstern, vgl.
Giraud/Mews, Le Liber pancrisis (wie Anm. 46).
68 Vgl. dazu zuletzt Andrée, Anselm of Laon (wie Anm. 46).
69 Vgl. Giraud, Per verba magistri (wie Anm. 4), S. 389 – 435.