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Innovationen durch Deuten und Gestalten: Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt — Klöster als Innovationslabore, Band 1: Regensburg: Schnell + Steiner, 2014

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Steckel, Sita: Deuten, Ordnen und Aneignen: Mechanismen der Innovation in der Erstellung hochmittelalterlicher Wissenskompendien
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https://doi.org/10.11588/diglit.31468#0237
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236 | Sita Steckel
ander traten, sich gegenseitig als relevant wahrnahmen und innovative Prozesse von
Abgrenzung und Transfer in Gang setzen.
Symptome dieses letztlich über das gesamte lange 12. Jahrhundert ablaufenden
intellektuellen, politischen und religiösen Verdichtungsprozesses waren zunächst
wiederholte, oftmals katalytisch wirksame Konflikte, da die meisten gelehrten Akteure
ihren Entwürfen übergreifende Gültigkeit zuzusprechen suchten. ⁸³ Doch
setzten die auftretenden Reibungen ihrerseits verschiedene Schübe gesellschaftlicher
Binnendifferenzierung in Gang, in denen gelehrtes Wissen zunehmend auf
neue Gebrauchssituationen zugeschnitten wurde. Dies äußerte sich teils in neuen
Sammlungen gelehrten Wissens, allmählich auch in weiteren Anpassungen der materiellen
Darbietung der Texte an spezifische Rezipientengruppen. Gerade wo Methoden
und Ziele strittig wurden, führte das wachsende Ordnungs- und Legitimationsbedürfnis
aber auch dazu, neue gelehrte Unternehmungen im Angesicht von
Gegnern genauer zu erläutern und theoretisch-argumentativ zu verteidigen. Die
Entwicklung neuer theoretischer Ordnungen des Wissens gewinnt daher grundsätzliche
Dynamik aus einer immer deutlicher werdenden Spannung zwischen dem
Versuch, Wissen möglichst umfassend zu sammeln und dem entgegenlaufenden Bemühen,
Einzelthemen unter Bezug auf gestiegene methodische Ansprüche vertieft
zu diskutieren.
Ein faszinierender Fall einer innovativen »Klosterenzyklopädie«, deren Ordnung
freilich noch implizit und experimentell blieb, illustriert die erstere Tendenz:
Zwischen 1112 und 1121 verfasste der Kanoniker Lambert von St. Omer eine umfassende
Wissenssammlung für seine Gemeinschaft, das Kanonikerstift St. Marien
in St. Omer. ⁸⁴ Wie der langjährige Erforscher des Liber Floridus, Albert Derolez,
festgestellt hat, lag die Anregung zu Lamberts Werk (wie schon bei Honorius
Augustodunensis) in Impulsen der Kirchenreform und der Heilssuche. Lamberts
genaue, religiös unterfütterte Beobachtung des (Heils-)Geschehens in seiner Umgebung
verbindet ihn mit mehreren monastischen Geschichtsschreibern des Hoch-
Centuries, Princeton 1983 (mit dem Konzept von »textual communities«); Steckel, Kulturen des Lehrens
(wie Anm. 11), S. 871.
83 Vgl. mit einigen Fällen Steckel, Kulturen des Lehrens (wie Anm. 11), S. 886 –1176.
84 Albert Derolez, The Autograph Manuscript of the Liber Floridus: A Key to the Encyclopedia of Lambert
of Saint-Omer (Corpus Christianorum. Autographa Medii Aevi 4), Turnhout, 1998 (vgl. dort S. 28
zur Datierung); ders., Lambertus Qui Librum Fecit: Een Codicologische Studie van de Liber Floridus-
Autograaf (Gent, Universiteitsbibliotheek, Handschrift 92) (Verhandelingen van de Koninklijke Academie
voor Wetenschappen. Letteren en schone Kunsten van België. Klasse Der Letteren 89), Brussel 1978;
Liber Floridus Colloquium. Papers Read at the International Meeting Held in the University Library
Ghent on 3.–5. September 1967, hg. von dems., Gent 1973. Nicht zugänglich war mir leider Jean-Charles
Bédague, Naissance et affirmation d’une collégiale. Notre-Dame de Saint-Omer, du début du IX ᵉ au
début du XIII ᵉ siècle, Paris 2009.
 
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