246 | Sita Steckel
Schlussüberlegungen. Vom Paradigmenwechsel zur Differenzierung
gelehrter Wissensformen
Die hier erörterten, skizzenhaften Überlegungen legen insgesamt nahe, dass der
Blick auf die bodenständige Gattung überblicksartiger Wissenskompendien die ältere
Forschung in interessanter Weise ergänzt und ihre eng auf intellektuelle Höhenflüge
eingeschränkte Perspektive erweitert. Die Entwicklung neuer, innovativer
und zunehmend differenzierter Formen gelehrten und religiösen Wissens für unterschiedliche
Gebrauchskontexte erweist sich keineswegs als eindimensionale oder
geradlinige Angelegenheit – und wie erwartet, kann es kaum angehen, das lange
12. Jahrhundert auf eine Innovation reduzieren zu wollen. Wie sich auch an anderen
Gattungen als den hier verfolgten theologischen Wissenskompendien zeigen ließe,
beobachten wir vielmehr mehrere, einander chronologisch überlappende Innovationstendenzen
und Experimente.
Eine eingängige Alternative zum Denkmodell des »Paradigmenwechsels« ist
nicht leicht zu formulieren In abstrakter Formulierung lässt sich jedoch festhalten,
dass die erhebliche Verdichtung des intellektuellen und religiösen Felds im westlichen
Europa des Hochmittelalters Prozesse der Neuaushandlung von Wissen und
Religiosität anregte. Sie brachten neue Formen der Wissensspeicherung für neue,
zunehmend gegeneinander abgegrenzte Gebrauchskontexte hervor, die sich in vielfältigen
Innovationsdynamiken gegenseitig beeinflussten.
Im Einzelnen fielen hier drei Befunde und Thesen auf, die für zukünftige Forschungen
festgehalten werden können.
1. Theoretisch betrachtet, sehen wir in den Dekaden um 1100 keinen geradlinigen
Paradigmenwechsel – tatsächlich entstehen in wissensgeschichtlicher Hinsicht
offensichtlich noch nicht einmal mehrere einheitliche, innovative »Strömungen«,
die neuen Bedarfslagen für säuberlich abgrenzbare Bereiche wie Klöster, Kirchen
und Schulen entgegenkämen. Vielmehr lassen sich an einzelnen gelehrten Entwürfen
wie denen Anselms von Laon und seiner Schule, Lamberts von St. Omer oder
Ruperts von Deutz kleine und kleinste Wissensgemeinschaften beobachten, deren
Konzepte von Wissen und Wissenssammlung sich quer zu institutionellen Zugehörigkeiten
gegenseitig beeinflussten und überlagerten. Die Vielfalt solcher Gruppen
und Gemeinschaften bewirkt jedoch eine erhebliche, im Ergebnis äußerst kreative
Dynamik.
Vor diesem Hintergrund sind die bekannten gelehrten Konflikte des langen
12. Jahrhunderts anders zu bewerten: Die dramatischen Zusammenstöße von Akteuren
wie Peter Abaelard und Bernhard von Clairvaux erschienen bislang als Symptome
des Paradigmenwechsels, an denen eine Gegenüberstellung von alter monastischer
und neuer schulischer Gelehrsamkeit ikonisch verdichtet wurde. Längst ist
Schlussüberlegungen. Vom Paradigmenwechsel zur Differenzierung
gelehrter Wissensformen
Die hier erörterten, skizzenhaften Überlegungen legen insgesamt nahe, dass der
Blick auf die bodenständige Gattung überblicksartiger Wissenskompendien die ältere
Forschung in interessanter Weise ergänzt und ihre eng auf intellektuelle Höhenflüge
eingeschränkte Perspektive erweitert. Die Entwicklung neuer, innovativer
und zunehmend differenzierter Formen gelehrten und religiösen Wissens für unterschiedliche
Gebrauchskontexte erweist sich keineswegs als eindimensionale oder
geradlinige Angelegenheit – und wie erwartet, kann es kaum angehen, das lange
12. Jahrhundert auf eine Innovation reduzieren zu wollen. Wie sich auch an anderen
Gattungen als den hier verfolgten theologischen Wissenskompendien zeigen ließe,
beobachten wir vielmehr mehrere, einander chronologisch überlappende Innovationstendenzen
und Experimente.
Eine eingängige Alternative zum Denkmodell des »Paradigmenwechsels« ist
nicht leicht zu formulieren In abstrakter Formulierung lässt sich jedoch festhalten,
dass die erhebliche Verdichtung des intellektuellen und religiösen Felds im westlichen
Europa des Hochmittelalters Prozesse der Neuaushandlung von Wissen und
Religiosität anregte. Sie brachten neue Formen der Wissensspeicherung für neue,
zunehmend gegeneinander abgegrenzte Gebrauchskontexte hervor, die sich in vielfältigen
Innovationsdynamiken gegenseitig beeinflussten.
Im Einzelnen fielen hier drei Befunde und Thesen auf, die für zukünftige Forschungen
festgehalten werden können.
1. Theoretisch betrachtet, sehen wir in den Dekaden um 1100 keinen geradlinigen
Paradigmenwechsel – tatsächlich entstehen in wissensgeschichtlicher Hinsicht
offensichtlich noch nicht einmal mehrere einheitliche, innovative »Strömungen«,
die neuen Bedarfslagen für säuberlich abgrenzbare Bereiche wie Klöster, Kirchen
und Schulen entgegenkämen. Vielmehr lassen sich an einzelnen gelehrten Entwürfen
wie denen Anselms von Laon und seiner Schule, Lamberts von St. Omer oder
Ruperts von Deutz kleine und kleinste Wissensgemeinschaften beobachten, deren
Konzepte von Wissen und Wissenssammlung sich quer zu institutionellen Zugehörigkeiten
gegenseitig beeinflussten und überlagerten. Die Vielfalt solcher Gruppen
und Gemeinschaften bewirkt jedoch eine erhebliche, im Ergebnis äußerst kreative
Dynamik.
Vor diesem Hintergrund sind die bekannten gelehrten Konflikte des langen
12. Jahrhunderts anders zu bewerten: Die dramatischen Zusammenstöße von Akteuren
wie Peter Abaelard und Bernhard von Clairvaux erschienen bislang als Symptome
des Paradigmenwechsels, an denen eine Gegenüberstellung von alter monastischer
und neuer schulischer Gelehrsamkeit ikonisch verdichtet wurde. Längst ist