264 | Thomas Ertl
nem gemeinsamen Repertoire von Texten schöpfend einen starken Korpsgeist ausbildete
und über Generationen hinweg vertrat. ⁵¹
Es waren bekanntlich bewegte Zeiten, in denen die Bettelorden entstanden. Kulturelle
und sozioökonomische Prozesse hatten die Welt verändert, ja der Wandel
der Welt hatte sich für die Zeitgenossen merklich beschleunigt:
Die Welt ist allenthalben / voll von Unfreundlichkeit.
Die einst mit mir gespielt, / sind jetzt müd und alt,
erweitert ist das Feld, / abgeholzt der Wald. ⁵²
Im Jahr 1228 beklagte Walther von der Vogelweide wehmütig auf ein bewegtes
Leben zurückblickend die dramatischen Veränderungen, die er miterlebt hatte. Es
war dies mehr als eine toposhafte Elegie, denn die westliche Christenheit erlebte in
den Dezennien um 1200 tatsächlich eine Form beschleunigter Diversifizierung. ⁵³
Eine Ursache für die Unruhe, von der die Gesellschaft in weiten Teilen des westlichen
Europa in den Jahrzehnten um 1200 erfasst wurde, lag in wirtschaftlichen
und sozialen Wandlungsprozessen, deren deutlichster Ausdruck die Expansion der
Städte und protokapitalistische Wirtschaftsformen war. Eine vorwiegend agrarische
Gesellschaft verwandelte sich im Laufe dieses Prozesses in eine protostädtische Gesellschaft,
die sich immer stärker des Mediums der Schrift bediente. ⁵⁴ In manchen
Gegenden Europas vollzog sich diese Entwicklung schneller und nachhaltiger als
in anderen; die Peripherie wurde bis ans Ende des Mittelalters kaum davon berührt.
Dennoch kann der Weg zum entfalteten Städtewesen mit all seinen Implikationen
als der vielleicht wesentlichste Ausgleichsprozess, den das mittelalterliche Europa
durchlebte, betrachtet werden, vor allem dann, wenn man ihn mit der dafür unentbehrlichen
Bevölkerungsvermehrung im agrarischen Milieu verbunden sieht. ⁵⁵ Die
sozioökonomischen Veränderungen strahlten auf andere Lebensbereiche aus. Die
Formen politischer Herrschaft waren davon ebenso betroffen wie soziale Praktiken
und religiöse Überzeugungen. Die überlieferten Traditionen lieferten keine
51 Zum Begriff vgl. Brian Stock, Listening for the text. On the uses of the past, Baltimore 1990.
52 Walther von der Vogelweide, Sämtliche Lieder. Mittelhochdeutsch und in neuhochdeutscher Prosa. Mit
einer Einführung in die Liedkunst Walthers, hg. von Friedrich Maurer (UTB 167), München 1972,
S. 263 f. (Elegie).
53 So die These von Wolfdieter Haas, Welt im Wandel. Das Hochmittelalter, Stuttgart 2002. Zum hohen
Mittelalter als Forschungsgegenstand vgl. Michael Borgolte, Einheit, Reform, Revolution. Das Hochmittelalter
im Urteil der Modernen, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 248, 1996, S. 225 –258.
54 Michael T. Clanchy, From memory to written record. England 1066 –1307, 2. Aufl. Oxford 1993.
55 Peter Moraw, Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen
Mittelalter, in: Hochfinanz, Wirtschaftsräume, Innovationen. Festschrift für Wolfgang von Stromer,
3 Bde., hg. von Uwe Bestmann/Franz Irsigler, Trier 1987, Bd. 2, S. 583 – 622, hier S. 599.
nem gemeinsamen Repertoire von Texten schöpfend einen starken Korpsgeist ausbildete
und über Generationen hinweg vertrat. ⁵¹
Es waren bekanntlich bewegte Zeiten, in denen die Bettelorden entstanden. Kulturelle
und sozioökonomische Prozesse hatten die Welt verändert, ja der Wandel
der Welt hatte sich für die Zeitgenossen merklich beschleunigt:
Die Welt ist allenthalben / voll von Unfreundlichkeit.
Die einst mit mir gespielt, / sind jetzt müd und alt,
erweitert ist das Feld, / abgeholzt der Wald. ⁵²
Im Jahr 1228 beklagte Walther von der Vogelweide wehmütig auf ein bewegtes
Leben zurückblickend die dramatischen Veränderungen, die er miterlebt hatte. Es
war dies mehr als eine toposhafte Elegie, denn die westliche Christenheit erlebte in
den Dezennien um 1200 tatsächlich eine Form beschleunigter Diversifizierung. ⁵³
Eine Ursache für die Unruhe, von der die Gesellschaft in weiten Teilen des westlichen
Europa in den Jahrzehnten um 1200 erfasst wurde, lag in wirtschaftlichen
und sozialen Wandlungsprozessen, deren deutlichster Ausdruck die Expansion der
Städte und protokapitalistische Wirtschaftsformen war. Eine vorwiegend agrarische
Gesellschaft verwandelte sich im Laufe dieses Prozesses in eine protostädtische Gesellschaft,
die sich immer stärker des Mediums der Schrift bediente. ⁵⁴ In manchen
Gegenden Europas vollzog sich diese Entwicklung schneller und nachhaltiger als
in anderen; die Peripherie wurde bis ans Ende des Mittelalters kaum davon berührt.
Dennoch kann der Weg zum entfalteten Städtewesen mit all seinen Implikationen
als der vielleicht wesentlichste Ausgleichsprozess, den das mittelalterliche Europa
durchlebte, betrachtet werden, vor allem dann, wenn man ihn mit der dafür unentbehrlichen
Bevölkerungsvermehrung im agrarischen Milieu verbunden sieht. ⁵⁵ Die
sozioökonomischen Veränderungen strahlten auf andere Lebensbereiche aus. Die
Formen politischer Herrschaft waren davon ebenso betroffen wie soziale Praktiken
und religiöse Überzeugungen. Die überlieferten Traditionen lieferten keine
51 Zum Begriff vgl. Brian Stock, Listening for the text. On the uses of the past, Baltimore 1990.
52 Walther von der Vogelweide, Sämtliche Lieder. Mittelhochdeutsch und in neuhochdeutscher Prosa. Mit
einer Einführung in die Liedkunst Walthers, hg. von Friedrich Maurer (UTB 167), München 1972,
S. 263 f. (Elegie).
53 So die These von Wolfdieter Haas, Welt im Wandel. Das Hochmittelalter, Stuttgart 2002. Zum hohen
Mittelalter als Forschungsgegenstand vgl. Michael Borgolte, Einheit, Reform, Revolution. Das Hochmittelalter
im Urteil der Modernen, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 248, 1996, S. 225 –258.
54 Michael T. Clanchy, From memory to written record. England 1066 –1307, 2. Aufl. Oxford 1993.
55 Peter Moraw, Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen
Mittelalter, in: Hochfinanz, Wirtschaftsräume, Innovationen. Festschrift für Wolfgang von Stromer,
3 Bde., hg. von Uwe Bestmann/Franz Irsigler, Trier 1987, Bd. 2, S. 583 – 622, hier S. 599.