268 | Thomas Ertl
Mit der äußeren Organisation der Christenheit war immer auch die innere Durchdringung
des Individuums verbunden, ein Vorhaben, das im Gegensatz zur Etablierung
pfarrkirchlicher Strukturen niemals als gänzlich abgeschlossen betrachtet
werden kann. Gleichsam in Wellen versuchten Kleriker und Laien in allen Jahrhunderten
des Mittelalters, die innere Verchristlichung der Gemeinschaft voranzutreiben
und nach zeitgemäßen Vorstellungen zu formen. Zu immer neuen Hilfsmitteln
und Methoden wurde gegriffen, ständig wurde nach neuen Wegen gesucht. ⁷² So
erfand sich die Kirche immer wieder neu, um den jeweils aktuellen Herausforderungen
gerecht zu werden. Ein solcher Erneuerungsschub, eine solche Phase verdichteter
»Christianisation«, ⁷³ formierte sich im ausgehenden 12. Jahrhundert, um
im 13. Jahrhundert, in der Frühzeit der Bettelorden, seine Wirkung zu entfalten. ⁷⁴
Die Verchristlichung einer Gesellschaft ist demnach kein zeitloses Programm
festen Inhalts, sondern bedeutet von Gesellschaft zu Gesellschaft und von Epoche
zu Epoche etwas anderes. Die Vielfalt christlichen Lebens im 21. Jahrhundert beispielsweise
ist kaum auf einen Nenner zu bringen, eine ähnliche Bandbreite von
Möglichkeiten umfasste christliches Leben in den verschiedenen Ländern und Jahrhunderten
des Mittelalters. Prozesse der Verchristlichung gleichen einer Matrix,
in der kulturelle Vorstellungen und Praktiken, soziale und ökonomische Strukturen
mit politischen Absichten zusammenwirken. Wo die aktiven Kräfte liegen, die
den Prozess vorantreiben und prägen, ist schwer zu sagen. Allerdings wird man
den Männern und Frauen der Kirche bei der kulturellen Prägung der westeuropäischen
Gesellschaften wohl grundsätzlich eine beträchtliche Bedeutung zusprechen
können. Anders als Norbert Elias und in direkter Auseinandersetzung mit ihm
konnten Historiker und Soziologen wie C. Stephen Jaeger und Hans Peter Duerr
überzeugend deutlich machen, dass die Kirche den Wandel der Mentalitäten und
kulturellen Praktiken der Laienwelt entscheidend mitprägte. ⁷⁵ Es waren die Traktate
der Theologen und Prediger über das rechte Verhalten zunächst der kirchlichen
Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Komparatistik, hg. von Michael Borgolte
(Europa im Mittelalter 1), Berlin 2001, S. 135 –169, hier S. 135.
72 Zur Vielfalt der mittelalterlichen Mission(smethoden) vgl. Varieties of Religious Conversion in the Middle
Ages, hg. von James Muldoon, Gainesville 1997; Christianizing Peoples and Converting Individuals,
hg. von Guyda Armstrong/Ian Nicholas Wood, Turnhout 2000.
73 Zum Begriff Kaspar Elm, Die Christianisierung des Landes im hohen und späten Mittelalter, in: La
Christianisation des campagnes. Actes du colloque du C.I.H.E.C. 25 –27 août 1994, 2 Bde., hg. von Jean-
Pierre Massaut/Marie-Elisabeth Henneau, Bruxelles 1996, Bd. 1, S. 83 –93, hier S. 86.
74 Zur Religionsgeschichte des 12. Jahrhunderts vgl. Brenda Bolton, The medieval reformation (Foundations
of medieval history), London 1983; Giles Constable, The Reformation of the Twelfth Century
(Trevelyan lectures given at the University of Cambridge, 1985), Cambridge 1996.
75 Hans Peter Duerr, Der Mythos vom Zivilisationsprozess, 5 Bde., Frankfurt am Main 1994 –2005; Jaeger,
Die Entstehung (wie Anm. 28). Zur Rezeption des Buches aus der Sicht des Autors vgl. ders.,
Origins of courtliness after 25 years, in: Haskins Society Journal 21, 2010, S. 187–216.
Mit der äußeren Organisation der Christenheit war immer auch die innere Durchdringung
des Individuums verbunden, ein Vorhaben, das im Gegensatz zur Etablierung
pfarrkirchlicher Strukturen niemals als gänzlich abgeschlossen betrachtet
werden kann. Gleichsam in Wellen versuchten Kleriker und Laien in allen Jahrhunderten
des Mittelalters, die innere Verchristlichung der Gemeinschaft voranzutreiben
und nach zeitgemäßen Vorstellungen zu formen. Zu immer neuen Hilfsmitteln
und Methoden wurde gegriffen, ständig wurde nach neuen Wegen gesucht. ⁷² So
erfand sich die Kirche immer wieder neu, um den jeweils aktuellen Herausforderungen
gerecht zu werden. Ein solcher Erneuerungsschub, eine solche Phase verdichteter
»Christianisation«, ⁷³ formierte sich im ausgehenden 12. Jahrhundert, um
im 13. Jahrhundert, in der Frühzeit der Bettelorden, seine Wirkung zu entfalten. ⁷⁴
Die Verchristlichung einer Gesellschaft ist demnach kein zeitloses Programm
festen Inhalts, sondern bedeutet von Gesellschaft zu Gesellschaft und von Epoche
zu Epoche etwas anderes. Die Vielfalt christlichen Lebens im 21. Jahrhundert beispielsweise
ist kaum auf einen Nenner zu bringen, eine ähnliche Bandbreite von
Möglichkeiten umfasste christliches Leben in den verschiedenen Ländern und Jahrhunderten
des Mittelalters. Prozesse der Verchristlichung gleichen einer Matrix,
in der kulturelle Vorstellungen und Praktiken, soziale und ökonomische Strukturen
mit politischen Absichten zusammenwirken. Wo die aktiven Kräfte liegen, die
den Prozess vorantreiben und prägen, ist schwer zu sagen. Allerdings wird man
den Männern und Frauen der Kirche bei der kulturellen Prägung der westeuropäischen
Gesellschaften wohl grundsätzlich eine beträchtliche Bedeutung zusprechen
können. Anders als Norbert Elias und in direkter Auseinandersetzung mit ihm
konnten Historiker und Soziologen wie C. Stephen Jaeger und Hans Peter Duerr
überzeugend deutlich machen, dass die Kirche den Wandel der Mentalitäten und
kulturellen Praktiken der Laienwelt entscheidend mitprägte. ⁷⁵ Es waren die Traktate
der Theologen und Prediger über das rechte Verhalten zunächst der kirchlichen
Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Komparatistik, hg. von Michael Borgolte
(Europa im Mittelalter 1), Berlin 2001, S. 135 –169, hier S. 135.
72 Zur Vielfalt der mittelalterlichen Mission(smethoden) vgl. Varieties of Religious Conversion in the Middle
Ages, hg. von James Muldoon, Gainesville 1997; Christianizing Peoples and Converting Individuals,
hg. von Guyda Armstrong/Ian Nicholas Wood, Turnhout 2000.
73 Zum Begriff Kaspar Elm, Die Christianisierung des Landes im hohen und späten Mittelalter, in: La
Christianisation des campagnes. Actes du colloque du C.I.H.E.C. 25 –27 août 1994, 2 Bde., hg. von Jean-
Pierre Massaut/Marie-Elisabeth Henneau, Bruxelles 1996, Bd. 1, S. 83 –93, hier S. 86.
74 Zur Religionsgeschichte des 12. Jahrhunderts vgl. Brenda Bolton, The medieval reformation (Foundations
of medieval history), London 1983; Giles Constable, The Reformation of the Twelfth Century
(Trevelyan lectures given at the University of Cambridge, 1985), Cambridge 1996.
75 Hans Peter Duerr, Der Mythos vom Zivilisationsprozess, 5 Bde., Frankfurt am Main 1994 –2005; Jaeger,
Die Entstehung (wie Anm. 28). Zur Rezeption des Buches aus der Sicht des Autors vgl. ders.,
Origins of courtliness after 25 years, in: Haskins Society Journal 21, 2010, S. 187–216.