348 | Gert Melville
In der Kanonisationsbulle des Franziskus aus dem Jahre 1228 hatte es sehr ähnlich
geklungen:
»Siehe, in der ›elften Stunde‹ hat der Herr […] seinen Diener, den seligen Franziskus
gerufen, einen Mann ›wahrhaft nach seinem Herzen‹, eine Leuchte,
[…] die […] bereit war, zur festgesetzten Zeit in den Weinberg geschickt
zu werden, damit er daraus die Dornen und Stacheln herausreiße und nach
Niederwerfung der angreifenden Philister das Vaterland erleuchte, mit Gott
versöhne und durch eifrige Ermahnung belehre.« ¹⁹
Jacques de Vitry, der sorgfältige Beobachter der klösterlichen Welt jener Zeit, bestätigte
diese Feststellungen, indem er darauf hinwies, dass in den jetzigen überaus
gefährlichen Zeiten des Antichrists Gott neue Athleten gesandt habe – eben jene
Jünger des Franziskus, die die Armut und Demut der Urkirche zu reformieren
suchten, die das pure Wasser des Evangeliums tränken und das apostolische Leben
nachahmten, sodass sie Arme wie Reiche zu bekehren verstanden. ²⁰
Die soteriologische Grundlage dieser Bezugnahme auf die beiden großen Bettelorden,
die hier ebenfalls in die Verantwortung für die ganze Christenheit genommen
wurden, fand eine zusätzliche Untermauerung, als man um die Mitte des
13. Jahrhunderts das von Joachim von Fiore entworfene heilsgeschichtliche Schema
rezipierte, in welchem dem Religiosentum für eine dritte und letzte Epoche der
Weltgeschichte – die des Heiligen Geistes – sogar die absolut führende Rolle zukommen
sollte. Der große dominikanische Enzyklopädist Vincenz von Beauvais
legte in Anlehnung an eine der vielen Joachim imitierenden Schriften dar, dass der
Herr sich im ersten Zeitalter der Greise Moses und Josua zur Abwehr der Feinde
Gottes, dann der erwachsenen Männer Paulus und Barnabas zur Vernichtung der
Götzenanbeter und schließlich der Knaben – nämlich der Mitglieder der jungen Orden
der Dominikaner und Franziskaner – bediente, um die Lehren des Evangeliums
vollends überall durchzusetzen. ²¹
Doch auch diese Vision einer sich verjüngenden Welt, in die die kindliche Frische
von Ordensleuten neue Kraft bringen sollte, wurde überholt von einem weiteren
Ansatz der Zuschreibung von Verantwortung. Die Offenbarungen der Heiligen
Birgitta von Schweden enthielten um die Mitte des 14. Jahrhunderts eine herbe Kri-
19 Übersetzung nach Ruth Wolff, Der heilige Franziskus in Schriften und Bildern des 13. Jahrhunderts,
Berlin 1996, S. 303.
20 The Historia Occidentalis of Jacques de Vitry. A Critical Edition, hg. von John Frederick Hinnebusch
(Spicilegium Friburgense 17), Fribourg 1972, S. 158 –161.
21 Vincentius Bellovacensis, Speculum quadruplex sive Speculum maius, Bd. 4: Speculum historiale, Douai
1624 (Nachdruck Graz 1965), S. 1324 f.
In der Kanonisationsbulle des Franziskus aus dem Jahre 1228 hatte es sehr ähnlich
geklungen:
»Siehe, in der ›elften Stunde‹ hat der Herr […] seinen Diener, den seligen Franziskus
gerufen, einen Mann ›wahrhaft nach seinem Herzen‹, eine Leuchte,
[…] die […] bereit war, zur festgesetzten Zeit in den Weinberg geschickt
zu werden, damit er daraus die Dornen und Stacheln herausreiße und nach
Niederwerfung der angreifenden Philister das Vaterland erleuchte, mit Gott
versöhne und durch eifrige Ermahnung belehre.« ¹⁹
Jacques de Vitry, der sorgfältige Beobachter der klösterlichen Welt jener Zeit, bestätigte
diese Feststellungen, indem er darauf hinwies, dass in den jetzigen überaus
gefährlichen Zeiten des Antichrists Gott neue Athleten gesandt habe – eben jene
Jünger des Franziskus, die die Armut und Demut der Urkirche zu reformieren
suchten, die das pure Wasser des Evangeliums tränken und das apostolische Leben
nachahmten, sodass sie Arme wie Reiche zu bekehren verstanden. ²⁰
Die soteriologische Grundlage dieser Bezugnahme auf die beiden großen Bettelorden,
die hier ebenfalls in die Verantwortung für die ganze Christenheit genommen
wurden, fand eine zusätzliche Untermauerung, als man um die Mitte des
13. Jahrhunderts das von Joachim von Fiore entworfene heilsgeschichtliche Schema
rezipierte, in welchem dem Religiosentum für eine dritte und letzte Epoche der
Weltgeschichte – die des Heiligen Geistes – sogar die absolut führende Rolle zukommen
sollte. Der große dominikanische Enzyklopädist Vincenz von Beauvais
legte in Anlehnung an eine der vielen Joachim imitierenden Schriften dar, dass der
Herr sich im ersten Zeitalter der Greise Moses und Josua zur Abwehr der Feinde
Gottes, dann der erwachsenen Männer Paulus und Barnabas zur Vernichtung der
Götzenanbeter und schließlich der Knaben – nämlich der Mitglieder der jungen Orden
der Dominikaner und Franziskaner – bediente, um die Lehren des Evangeliums
vollends überall durchzusetzen. ²¹
Doch auch diese Vision einer sich verjüngenden Welt, in die die kindliche Frische
von Ordensleuten neue Kraft bringen sollte, wurde überholt von einem weiteren
Ansatz der Zuschreibung von Verantwortung. Die Offenbarungen der Heiligen
Birgitta von Schweden enthielten um die Mitte des 14. Jahrhunderts eine herbe Kri-
19 Übersetzung nach Ruth Wolff, Der heilige Franziskus in Schriften und Bildern des 13. Jahrhunderts,
Berlin 1996, S. 303.
20 The Historia Occidentalis of Jacques de Vitry. A Critical Edition, hg. von John Frederick Hinnebusch
(Spicilegium Friburgense 17), Fribourg 1972, S. 158 –161.
21 Vincentius Bellovacensis, Speculum quadruplex sive Speculum maius, Bd. 4: Speculum historiale, Douai
1624 (Nachdruck Graz 1965), S. 1324 f.