Metadaten

Innovationen durch Deuten und Gestalten: Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt — Klöster als Innovationslabore, Band 1: Regensburg: Schnell + Steiner, 2014

DOI Artikel:
Melville, Gert: Innovation aus Verantwortung: Kloster und Welt im Mittelalter
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31468#0353
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
352 | Gert Melville
Charakter gewonnen. Das Neuartige betraf vor allem die Funktion des Dispenses.
Diejenigen Brüder – hieß es – , die an der Vorbereitung von Predigten arbeiteten,
könnten von allem, was dieses Tun behindere, dispensiert werden – also von den
liturgischen Pflichten eines Geistlichen, vom Ruhegebot nach der Komplet und so
fort. Das Studium diente der Predigt – folglich griff das Dispensrecht auch hier und
ließ zum Beispiel vom Lektüreverbot indizierter Bücher usw. befreien.
Das zweite Element – die Trennung von Schuld und Strafe – ergänzte das Instrument
des Dispenses. Es handelte sich dabei um das »Prinzip des reinen Strafrechts«,
das völlig neuartig den üblichen Rahmen der kanonistischen Schuldlehre aufsprengte.
Es besagte nämlich, dass ein Verstoß gegen die Bestimmungen der Statuten
(constitutiones) generell keine Sünde sei, vielmehr ziehe er nur eine vom Orden
verhängte Strafe nach sich. Schon gemäß dem Wunsche von Dominikus selbst war –
wie überliefert wird – das Motiv der Einführung jenes Prinzips, die Brüder von
unnötigen Skrupeln des Gewissens frei zu halten. Diese pax conscientiarum, dieser
Friede der individuellen Gewissen aber – so kommentierte dann Humbert – nutze
hinwiederum dem gesamten Orden und erhielte ihn funktionsfähig. Rechtssystematisch
bedeutete diese Trennung indes die Schaffung eines rein positiven Rechts,
dessen Sanktionen diesem immanent waren und das keiner transzendenten, d. h. im
Göttlichen liegenden Begründung bedurfte.
Selbstverantwortliche Mitglieder mussten sich – wollten sie diesen Status aufrecht
erhalten – wiederum in besonderem Maße verantwortlich fühlen für das
Ganze. Damit dazu auch jeder in der Lage war, ist die Verfassung der Dominikaner
dementsprechend konstruiert worden. Schon William Hinnebusch hat diesen
Sachverhalt auf den Punkt gebracht, als er sagte: »The administrative system
functioned through a descending chain of command – master general, provincials,
priors. […] Correspondingly, there was an ascending line of control by the community
– democratic elements of election, representation, chapters […]«. ²⁵ Gleichsam
sich überschneidende Richtungspfeile der Verantwortlichkeit sollten alle Mitglieder
einbinden in ein gemeinsames Bemühen um die dauerhafte Verwirklichung
der Ordensziele. Voraussetzung dafür war zum einen, dass auf jeder Ebene der
Instanzen (Gesamtorden, Provinz, Konvent) Macht von oben allein als Ergebnis
einer Delegation von unten verstanden werden konnte, da die organisatorisch wichtigsten
Amtsträger (Generalmagister, Provinzial- und Konventualprioren) durchwegs
unter Mitwirkung bzw. ausschließlich von »einfachen« Mitgliedern gewählt
wurden; und zum anderen, dass aufgrund der personellen Zusammensetzung von
Konvents-, Provinz- und Generalkapitel Gremien bestanden, die sowohl höhere
25 William A. Hinnebusch, The History of the Dominican Order, Bd. 1: Origins and Growth to 1500,
New York 1966, S. 170.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften