VIII
Einleitung des Herausgebers
nelle, moralische, politische und metaphysische Schuld) und verbindet damit ebenso
viele Formen der Verantwortlichkeit in Bezug auf die Deutschen, die unter dem NS-
Regime gelebt haben. In einem 1962 geschriebenen Nachwort zu einer späteren Aus-
gabe dieser Schrift, in der der Untertitel zu Von der politischen Haftung Deutschlands
geändert ist, unterstreicht Jaspers deren moralisch-politische Absicht: Sie sollte der
»Selbstbesinnung« dienen und dazu, »den Weg zur Würde im Übernehmen der je in
ihrer Art klar erkannten Schuld zu finden. Sie wies auch auf die Mitschuld der Sieger-
mächte, nicht um uns zu entlasten, sondern der Wahrhaftigkeit wegen, und auch um
leise der möglichen Selbstgerechtigkeit zu wehren, die in der Politik verhängnisvolle
Folgen für alle hat.«4 Der Historiker Reinhart Koselleck, der in Jaspers’ politischen und
historischen Erörterungen den Ausdruck einer primär am Freiheitsideal orientierten
liberalen Moral- und Geschichtsphilosophie sieht, würdigte diese historisch-politi-
sche Schrift vor dem Hintergrund der damaligen Verhältnisse und bedauert, dass sie
in der öffentlichen Diskussion kaum rezipiert wurde.5
Vom Ursprung und Ziel der Geschichte war das zweite Werk, mit dem Jaspers, nach
der totalitären Diktatur in Deutschland, aber auch angesichts der totalitären stalinisti-
schen Diktatur in der Sowjetunion, eine moralisch-politische Absicht verfolgte. Er er-
örtert darin ihm wesentlich erscheinende politische Fragen und nimmt Themen vor-
weg, die später im Hauptwerk seiner politischen Philosophie, Die Atombombe und die
Zukunft des Menschen von 1958, ausführlicher dargestellt werden. Eine Reaktion auf die
NS-Diktatur ist in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte unter anderem darin zu sehen,
dass Jaspers seine Auffassung über die politische Führung in einerpluralistisch-demo-
kratischen Gesellschaft änderte. Jaspers hatte stets die Idee eines politischen Führer-
tums durch charakterlich integre Einzelpersönlichkeiten vertreten. Als vernünftige
Individuen sollten Politiker Vorbilder für die »Masse des Volkes« sein, eine durch Ver-
trauen akzeptierte Autorität besitzen und eine wichtige Erziehungsfunktion ausüben.
In Die geistige Situation der Zeit von 1931 steht der Führergedanke in enger Verbindung
mit der Kritik an der »technischen Massenordnung« und der »Herrschaft des Appa-
rats«. Dort dient er als Gegenprinzip zu den Anonymisierungs- und Nivellierungsten-
denzen in der technisierten Massengesellschaft. In dieser frühen Schrift vertritt Jaspers
diesen Gedanken im Gefolge romantisierender Vorstellungen von »Ausnahme«-Per-
4 K. Jaspers: »Die Schuldfrage«, 145.
5 »Was er 1945 zur Schuldfrage - gegen die These der Kollektivschuld - formuliert hat, ist in seiner
nüchternen Abwägung zwischen Entlastung und Belastung damals kaum rezipiert worden. Die
Unterscheidung zwischen krimineller und moralischer Schuld, zwischen politischer Haftung und
metaphysischer Verantwortlichkeit - diese Distinktionen schienen im dichten Nebel der deut-
schen larmoyanten Selbstentschuldigungen und Selbstbeschuldigungen nicht zu greifen - aber
sie boten potentiell einen klaren Rahmen justizpolitischer Handlungsnormen.« (R. Koselleck: »Jas-
pers, die Geschichte und das Überpolitische«, in: Karl Jaspers. Philosoph, Arzt, politischer Denker.
Symposium zum 100. Geburtstag in Basel und Heidelberg, hg. von J. Hersch u.a., München 1986,291-
302,293).
Einleitung des Herausgebers
nelle, moralische, politische und metaphysische Schuld) und verbindet damit ebenso
viele Formen der Verantwortlichkeit in Bezug auf die Deutschen, die unter dem NS-
Regime gelebt haben. In einem 1962 geschriebenen Nachwort zu einer späteren Aus-
gabe dieser Schrift, in der der Untertitel zu Von der politischen Haftung Deutschlands
geändert ist, unterstreicht Jaspers deren moralisch-politische Absicht: Sie sollte der
»Selbstbesinnung« dienen und dazu, »den Weg zur Würde im Übernehmen der je in
ihrer Art klar erkannten Schuld zu finden. Sie wies auch auf die Mitschuld der Sieger-
mächte, nicht um uns zu entlasten, sondern der Wahrhaftigkeit wegen, und auch um
leise der möglichen Selbstgerechtigkeit zu wehren, die in der Politik verhängnisvolle
Folgen für alle hat.«4 Der Historiker Reinhart Koselleck, der in Jaspers’ politischen und
historischen Erörterungen den Ausdruck einer primär am Freiheitsideal orientierten
liberalen Moral- und Geschichtsphilosophie sieht, würdigte diese historisch-politi-
sche Schrift vor dem Hintergrund der damaligen Verhältnisse und bedauert, dass sie
in der öffentlichen Diskussion kaum rezipiert wurde.5
Vom Ursprung und Ziel der Geschichte war das zweite Werk, mit dem Jaspers, nach
der totalitären Diktatur in Deutschland, aber auch angesichts der totalitären stalinisti-
schen Diktatur in der Sowjetunion, eine moralisch-politische Absicht verfolgte. Er er-
örtert darin ihm wesentlich erscheinende politische Fragen und nimmt Themen vor-
weg, die später im Hauptwerk seiner politischen Philosophie, Die Atombombe und die
Zukunft des Menschen von 1958, ausführlicher dargestellt werden. Eine Reaktion auf die
NS-Diktatur ist in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte unter anderem darin zu sehen,
dass Jaspers seine Auffassung über die politische Führung in einerpluralistisch-demo-
kratischen Gesellschaft änderte. Jaspers hatte stets die Idee eines politischen Führer-
tums durch charakterlich integre Einzelpersönlichkeiten vertreten. Als vernünftige
Individuen sollten Politiker Vorbilder für die »Masse des Volkes« sein, eine durch Ver-
trauen akzeptierte Autorität besitzen und eine wichtige Erziehungsfunktion ausüben.
In Die geistige Situation der Zeit von 1931 steht der Führergedanke in enger Verbindung
mit der Kritik an der »technischen Massenordnung« und der »Herrschaft des Appa-
rats«. Dort dient er als Gegenprinzip zu den Anonymisierungs- und Nivellierungsten-
denzen in der technisierten Massengesellschaft. In dieser frühen Schrift vertritt Jaspers
diesen Gedanken im Gefolge romantisierender Vorstellungen von »Ausnahme«-Per-
4 K. Jaspers: »Die Schuldfrage«, 145.
5 »Was er 1945 zur Schuldfrage - gegen die These der Kollektivschuld - formuliert hat, ist in seiner
nüchternen Abwägung zwischen Entlastung und Belastung damals kaum rezipiert worden. Die
Unterscheidung zwischen krimineller und moralischer Schuld, zwischen politischer Haftung und
metaphysischer Verantwortlichkeit - diese Distinktionen schienen im dichten Nebel der deut-
schen larmoyanten Selbstentschuldigungen und Selbstbeschuldigungen nicht zu greifen - aber
sie boten potentiell einen klaren Rahmen justizpolitischer Handlungsnormen.« (R. Koselleck: »Jas-
pers, die Geschichte und das Überpolitische«, in: Karl Jaspers. Philosoph, Arzt, politischer Denker.
Symposium zum 100. Geburtstag in Basel und Heidelberg, hg. von J. Hersch u.a., München 1986,291-
302,293).