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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0010
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Einleitung des Herausgebers

IX

sönlichkeiten bei Nietzsche (»freie Geister«) und im Anschluss an die Idee des charis-
matischen Führertums von Max Weber noch auf eine Weise, die geeignet war, einen
politischen Dezisionismus zu rechtfertigen. So meinte Jaspers dort, dass an »den Wen-
depunkten der Daseinsordnung, wo die Frage ist, ob Neuschöpfung oder Untergang«,
jener Mensch entscheidend sei, »der aus eigenem Ursprung das Steuer ergreifen kann
auch gegen die Masse.«6
Nach der Erfahrung mit der NS-Diktatur und dem Missbrauch der Idee vom cha-
rismatischen politischen Führer in der NS-Führerideologie modifiziert Jaspers die Idee
des politischen Führertums in seinem Werk Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Er
vermeidet den Begriff »Führer« und spricht vom »verantwortlichen Staatsmann« und
dem »politisch handelnden Menschen« (in diesem Band, 192-193). Für diesen postu-
liert er Charaktereigenschaften, die in vielem jenen Eigenschaften ähnlich sind, die
Max Weber für den Beruf der Politik eingefordert hat.7 In Die Atombombe und die Zu-
kunft des Menschen wird diese Neuorientierung in der Idee des »vernünftigen Staats-
mannes« noch ausführlicher thematisiert und in den Kontext der Vorstellung von ei-
ner weltweiten »Gemeinschaft der Vernünftigen« eingebunden, die Wegbereiter einer
friedensfördernden »neuen Politik« sein soll. Die frühere dezisionistische Schlagseite
des Gedankens vom politischen Führertum ist weitgehend verschwunden, indem nun
der prinzipielle Öffentlichkeitscharakter alles politischen Handelns und die Notwen-
digkeit von dessen permanenter Kontrolle und kritischer Diskussion durch möglichst
viele Staatsbürger betont werden.8
Ein strukturelles Merkmal des Buches Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, das sich
in nahezu allen Schriften findet, die Jaspers als »politischer Denker«9 verfasst hat, ist
die oftmalige methodische Zuspitzung von Argumentationen auf polare Gegenüber-
stellungen von politischen Tendenzen und Sachverhalten. Damit ist die Absicht ver-
bunden, über das Durchdenken von extremen Möglichkeiten und den konstruktiven
Entwurf von alternativen Standpunkten, auch wenn diese in der Realität nicht empi-
risch nachweisbar sind, politische Konstellationen besser verstehen zu können und
auf Gefahren für das »eigentliche Menschsein« nachhaltig aufmerksam zu machen. Im

6 K. Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, 51.
7 Vgl. M. Weber: »Politik als Beruf«, in: Max Weber Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 17, hg. von W.J. Momm-
sen und W. Schluchter in Zusammenarbeit mit B. Morgenbrod, Tübingen 1992,227-252.
8 Vgl. K. Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, 301-303, 326-339.
9 Wenn sich Jaspers verschiedentlich selbst als »bloß politischen Denker« oder auch als »politi-
schen Schriftsteller« bezeichnet hat - so im jeweiligen Vorwort seiner beiden Schriften Wohin
treibt die Bundesrepublik? und Antwort -, tat er dies in ausdrücklicher Abgrenzung vom politisch
handelnden Menschen, der stets auch folgenreiche Entscheidungen in der Realpolitik zu treffen
hat. Jaspers deshalb streitig zu machen, ein politischer Philosoph gewesen zu sein, ignoriert den
engen Zusammenhang zwischen seinen politischen Stellungnahmen und seinen philosophi-
schen Grundannahmen (Freiheitsideal, Verantwortungsprinzip, Ethos der Humanität, Kommu-
nikationsideal, philosophisch-anthropologische Vorannahmen usw.).
 
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