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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0014
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Einleitung des Herausgebers

XIII

Geschichte, noch vertritt er einen teleologischen oder deterministischen Standpunkt.
Den zuerst genannten Standpunkt haben antike Philosophen mit der These vom Auf-
stieg und Niedergang von Epochen in Analogie zum Naturgeschehen (Hesiod, Thuky-
dides) vertreten, in der Neuzeit haben diese Position Friedrich Nietzsche mit der These
von der »ewigen Wiederkehr des Gleichen«15 oder Vilfredo Pareto mit der Auffassung
vom sich stets wiederholenden Kreislauf der Eliten nahegelegt. Für Pareto ist das zen-
trale Kennzeichen des Geschichtsverlaufs der sich stets wiederholende Auf- und Ab-
stieg von gesellschaftlichen Eliten. Für ihn bleiben die menschlichen Triebkräfte
(Machttrieb, Herrschaftsstreben, Eitelkeit, Gewaltbereitschaft usw.), die das Handeln
in der Geschichte bestimmen, unverändert, es verändern sich nur die Rechtfertigun-
gen (»Derivationen«), mit denen die von den Triebimpulsen motivierten Handlungen
begründet werden.16 Die zweite genannte Grundposition, die teleologische These von
einem Endziel der Geschichte, auf das der Geschichtsprozess notwendig zutreibt, fin-
det sich etwa in der Kulturzyklentheorie von Oswald Spengler oder in der Geschichts-
theorie von Karl Marx und Friedrich Engels.17
Aus Jaspers’ Kritik an Toynbee, Spengler und Marx (vgl. in diesem Band, 14, 175,
238) wird seine grundsätzliche Ablehnung von deterministischen Geschichtsauffas-
sungen deutlich. Ein Menschenbild, bei dem die Prinzipien der individuellen Freiheit
(»existentielle« und »politische Freiheit«) und der persönlichen Verantwortlichkeit als
zentrale Leitprinzipien für die Verwirklichung des Menschseins gelten, setzt notwen-
dig einen indeterministischen Standpunkt in Bezug auf den Geschichtsverlauf voraus.
Ist im Titel des Buches von einem »Ziel« der Geschichte die Rede, ist damit kein inhalt-
lich voraussagbares Endziel der Geschichte gemeint. Mit diesem Begriff verbindet Jas-
pers eine appellativ-normative Funktion, ebenso wie mit dem Begriff der »Einheit« der
Geschichte. Es werden damit bloß »Möglichkeiten« vor Augen gestellt, an denen sich
der Mensch in seinem Denken und Handeln orientieren könnte. Einen voraussehba-
ren Endzustand im Sinne einer Katastrophe (Spengler: Untergang des Abendlandes)
oder eines realisierten Heilszustandes (Marx: klassenlose Gesellschaft) kann es aus Jas-
pers’ Sicht nicht geben, weil die Geschichtsentwicklung prinzipiell offen ist. Die wei-
tere Entwicklung hängt vom vernünftigen und verantwortungsorientierten Handeln
der einzelnen Menschen ab. Wie die Menschen individuell handeln, ist jedoch auf-

15 F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, 343-651, 570; vgl. auch: Also sprach Zarathustra,
KSA 4,199,275,396.
16 Vgl. V. Pareto: Allgemeine Soziologie, ausgewählt, eingeleitet und übersetzt von C. Brinkmann, Tü-
bingen 1955,217-231,244-255.
17 Vgl. O. Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Phänomenologie der Weltgeschichte,
München 1923; K. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: K. Marx, F. Engels: Werke.
Ergänzungsband. Erster Teil, Berlin 1968, 465-588; F. Engels, K. Marx: Die heilige Familie oder Kri-
tik der kritischen Kritik, in: dies.: Werke Bd. II, Berlin 1974, 38; dies.: Manifest der Kommunistischen
Partei, in: dies.: Werke Bd. IV, Berlin 1974, 473-474.
 
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