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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0052
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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des Ganzen durch den faktischen Glauben der Volksmassen (und konnte in der Folge
in weiten Gebieten wieder zum Siege gelangen).
Diese gesamte Veränderung des Menschseins kann man Vergeistigung nennen. Aus
dem unbefragten Innesein des Lebens geschieht die Lockerung, aus der Ruhe der Po-
laritäten geht es zur Unruhe der Gegensätze und Antinomien. Der Mensch ist nicht
mehr in sich geschlossen. Er ist sich selber ungewiß, damit aufgeschlossen für neue,
grenzenlose Möglichkeiten. Er kann hören und verstehen, was bis dahin niemand ge-
fragt und niemand gekündet hatte. Unerhörtes wird offenbar. Mit seiner Welt und sich
selbst wird dem Menschen das Sein fühlbar, aber nicht endgültig: die Frage bleibt.
| Zum erstenmal gab es Philosophen. Menschen wagten es, als Einzelne sich auf sich 22
selbst zu stellen. Einsiedler und wandernde Denker in China, Asketen in Indien, Phi-
losophen in Griechenland, Propheten in Israel gehören zusammen, so sehr sie in Glau-
ben, Gehalten, innerer Verfassung voneinander unterschieden sind. Der Mensch ver-
mochte es, sich der ganzen Welt innerlich gegenüberzustellen. Er entdeckte in sich
den Ursprung, aus dem er über sich selbst und die Welt sich erhebt.
Im spekulativen Gedanken schwingt er sich auf zu dem Sein selbst, das ohne Zwei-
heit, im Verschwinden von Subjekt und Objekt, im Zusammenfallen der Gegensätze
ergriffen wird. Was im höchsten Aufschwung erfahren wird als Zusichselbstkommen
im Sein oder als unio mystica, als Einswerden mit der Gottheit, oder als Werkzeugwer-
den für den Willen Gottes, das wird im objektivierenden spekulativen Gedanken zwei-
deutig und mißverständlich ausgesprochen.
Es ist der eigentliche Mensch, der im Leibe gebunden und verschleiert, durch Triebe
gefesselt, seiner selbst nur dunkel bewußt, nach Befreiung und Erlösung sich sehnt,
und sie in der Welt schon erreichen kann, - sei es im Aufschwung zur Idee, oder in der
Gelassenheit der Ataraxie, oder in der Versenkung der Meditation, oder im Wissen sei-
ner selbst und der Welt als Atman, oder im Erfahren des Nirwana, oder in dem Ein-
klang mit dem Tao, oder in der Hingabe an den Willen Gottes. Es sind wohl außeror-
dentliche Sinnverschiedenheiten in der Gesinnung und in den Glaubensinhalten,
aber gemeinsam ist, daß der Mensch über sich hinausgreift, indem er sich seiner im
Ganzen des Seins bewußt wird, und daß er Wege beschreitet, die er als je Einzelner zu
gehen hat. Er kann auf alle Güter der Welt verzichten, in die Wüste, in den Wald und
ins Gebirge gehen, als Einsiedler die schaffende Kraft der Einsamkeit entdecken und
zurückkehren in die Welt als Wissender, als Weiser, als Prophet. Es geschah in der Ach-
senzeit das Offenbarwerden dessen, was später Vernunft und Persönlichkeit hieß.
Was der Einzelne erreicht, überträgt sich keineswegs auf alle. Der Abstand zwischen
den Gipfeln menschlicher Möglichkeiten und der Menge wird damals außerordent-
lich. Aber was der | Einzelne wird, verändert doch indirekt alle. Das Menschsein im 23
Ganzen tut einen Sprung.
 
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