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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0053
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

Der neuen geistigen Welt entspricht ein soziologischer Zustand, der in allen drei Gebie-
ten Analogien zeigt. Es gab eine Fülle kleiner Staaten und Städte, einen Kampf aller ge-
gen alle, bei dem doch zunächst ein erstaunliches Gedeihen, eine Entfaltung von Kraft
und Reichtum möglich war. In China war unter dem ohnmächtigen Reichshaupt der
Tschou-Dynastie ein Leben der kleinen Staaten und Städte souverän geworden; der po-
litische Prozeß war die Vergrößerung der Kleinen durch Unterwerfung anderer Klei-
ner. In Hellas und im vorderen Orient war ein selbständiges Leben der Kleinen, sogar
zum Teil der von Persien Unterworfenen. In Indien gab es viele Staaten und selbstän-
dige Städte.
Gegenseitiger Verkehr brachte je innerhalb der drei Welten die geistige Bewegung
in Umlauf. Die chinesischen Philosophen, Konfuzius und Moti und andere, wander-
ten, um sich an berühmten, dem geistigen Leben günstigen Orten zu treffen (sie bil-
deten Schulen, die die Sinologen Akademien nennen), geradeso wie die Sophisten und
die Philosophen in Hellas reisten und wie Buddha lebenslang wanderte.
Vorher war ein vergleichsweise dauernder geistiger Zustand, in dem trotz Katastro-
phen alles sich wiederholte, beschränkt in den Horizonten, in einer stillen, sehr lang-
samen geistigen Bewegung, die nicht bewußt und daher nicht begriffen wurde. Jetzt
dagegen wächst die Spannung und wird ein Grund der reißend schnellen Bewegung.
Diese kommt zum Bewußtsein. Das menschliche Dasein wird als Geschichte Gegen-
stand des Nachdenkens. In der eigenen Gegenwart, so fühlt und weiß man, beginnt
Außerordentliches. Aber damit zugleich wird bewußt, daß unendliche Vergangenheit
vorherging. Schon im Anfang dieses Erwachens des eigentlich menschlichen Geistes
ist der Mensch getragen von Erinnerung, hat er das Bewußtsein des Spätseins, ja des
Verfallenseins.
Man sieht die Katastrophe vor Augen, will helfen durch Einsicht, Erziehung, Reform.
Man will planend den Gang der Ereignisse in die Hand nehmen, man will die rechten
24 Zustände | wiederherstellen oder erstmalig neu hervorbringen. Das Ganze der Ge-
schichte wird gedacht als eine Folge von Weltgestalten, entweder als ein Prozeß des
ständigen Schlechterwerdens, oder als Kreislauf, oder als Aufstieg. Man erdenkt, auf
welche Weise die Menschen am besten zusammen leben, verwaltet und regiert wer-
den. Reformgedanken beherrschen das Handeln. Die Philosophen ziehen von Staat zu
Staat, sind Ratgeber und Lehrer, werden verachtet und gesucht, stehen untereinander
in Diskussion und Konkurrenz. Es ist eine soziologische Analogie zwischen dem Schei-
tern des Konfuzius am Hofe des Staates Wei und dem des Platon in Syrakus, zwischen
der Schule des Konfuzius, in der kommende Staatsmänner ausgebildet wurden, und
der Akademie Plantons, in der dasselbe geschah.
Das Zeitalter, in dem dies durch Jahrhunderte sich entfaltete, war keine einfach auf-
steigende Entwicklung. Es war Zerstörung und Neuhervorbringen zugleich. Eine Vollen-
dung wurde keineswegs erreicht. Die höchsten Möglichkeiten des Gedankens und der
Praxis, die in Einzelnen verwirklicht waren, wurden nicht Gemeingut, weil die Men-
 
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